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Antike Philosophie

Das Maß des guten Lebens in der klassischen Philosophie

Die Frage nach dem guten Leben beschäftigt Philosophen aus allen Jahrhunderten. Maßgeblich für ihre Beantwortung bis heute sind die großen Philosophien des Klassischen Griechenlands. (Ohne eine Hierarchie darzustellen sei hier diese Liste gegeben: Neuplatonismus, Aristotelismus, die Systeme der kleinen Sokratiker, die Pythagoreer, die Skeptiker, die Akademiker, die Stoiker, die Epikureer).

Ihr Denken ist aufbewahrt in den überlieferten Texten und den dazugehörigen interpretativen Traditionen; dieses Denken ist maßgeblich in zwei Hinsichten. Zum einen gibt das Klassische Denken der Frage nach dem guten Leben ein Maß, indem es seither das Framing dieser beeinflusst. Wie wir (und Denker, die vor uns so dachten) über das Leben und sein Gutsein nachdenken, diese Art und Weise des Frage-Stellens ist im Antiken Denken vorgezeichnet.  Zum anderen sind die Philosophen der Klassischen Epoche Maß gebend, weil ihr Nachdenken über das Gute und das Gutsein sich an einem Maßstab orientiert, an dem gemessen ein Leben gut genannt werden kann. Beide Aspekte des maßgeblichen Nachdenkens über die Frage nach dem guten Leben wollen wir beleuchten. 

Beginnen wir bei der Frage der Bemessung. Dass etwas gut sei, setzt einen Maßstab voraus. Denn nur vor dem Hintergrund des Maßstabs erscheint uns etwas als gut bzw. schlecht. Gut und Schlecht sind als Prädikate Bemessungen, wertende Urteile. (Wir nennen bewertende Urteile heute evaluative Urteile.) 

Ein Stift ist gut soweit er taugt. Ähnlich steht es mit Stühlen und mit anderen Artefakten. Die Tauglichkeit ist eine Dimension, indem ein Ding seinen Zweck verfehlen kann. In dieser Dimension geht es um Bemessung: Wie sehr es taugt, wie sehr es praktisch, performativ seinen Zweck erfüllt – so sehr gut ist es. Nahezu alle menschgemachten Dinge, Artefakte kann man so beurteilen. Kunst steht dabei außen vor, sie lässt sich zwar allenthalben als handwerklich geschickt beurteilen, aber nicht eigentlich in der Dimension der Tauglichkeit, da sie zwecklos ist. 

Ähnlich steht es mit der Bewertung von Charaktereigenschaften als gut. Die Rede ist hier von festen Eigenschaften einer Person, erworbene Persönlichkeitseigenschaften, die sich zeigen im Tun und Lassen dieser Person. Auch diese kann man gut oder schlecht nennen. Der Maßstab ist auch hier die Tauglichkeit: Sie taugen für ein gutes Leben. Das gute Leben ist in Antiken Denken aufs engste mit der Arbeit am Selbst, am Verhalten, den Motiven verbunden. Aus dieser Arbeit entsteht der Charakter der Person. Bestimmte Eigenschaften der Person verhelfen mehr zu einem guten Leben als andere. Dies hört sich für unsere liberalen Ohren krude und altbacken an, aber dieses Einsicht in den Nutzen von Tugenden ist erfahrungsbewährt. 

Der Gedanke, dass eine Charakter tauglich für ein gutes Leben ist, führte zur  Rede von Kardinaltugenden. Das letzte Wort dieses Kompositums, bezieht sich auf rechte Charaktereigenschaften bezieht und das erste Wort, Kardinaltugend, wortgeschichtlich auf das Türscharnier. Jene Tugenden – klassisch in der Vierzahl: Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit und Gerechtigkeit – sind sozusagen Türöffner für ein gutes Leben. Sie sind in diesem tauglich; wer sie erwirbt, der erwirbt sich Zugang zu einem guten Leben. 

So weit habe ich gezeigt, was ein gutes Artefakt ist und was eine Tugend. Aber was ist denn ein gutes Leben? Wo liegt hier der Maßstab, den ich behaupte?  

Zunächst will ich deutlich machen, dass „Leben“ als gedanklicher Inhalt und Redesinn sich kategorial von Artefakten und Persönlichkeitseigenschaften unterscheidet. Jene sind Dinge, die konkret in der Raumzeit gezeigt werden können. Artefakte können Fehler haben, Handlungen können scheitern. Das Leben hingegen ist ein abgeschlossen gedachter Prozess, der in der Raumzeit ausgedehnt ist. Die Bewertung von Leben ist ein wenig anders logisch strukturiert als die Bewertung von Dingen oder Taten. Wenn wir von einem guten Leben reden, müssen wir ein wenig anderes Denken. 

Die klassischen Philosophen gaben dem Leben ein Maß, indem sie demjenigen der lebt, als Repräsentanten einer Gattung ansahen. Der Mensch, der ein Leben führt, ist ein Lebewesen mit einer Artnatur. Diese Artnatur gibt dem Leben ein Maß: Man kann gemäß dieser Natur ein Leben führen, dann ist es gut. Oder man verfehlt dieses Maß. (Der Gedanke der Verfehlung ist im christlichen Denken als Verfehlung gegen das Urteil, den Ratschluss und die Ordnung der Schöpfung gedacht worden.) Verfehlung im Sinne der Griechischen Klassik ist aber mehr aus dem Bogen-Schießen zu denken: Man verfehlt hier das Ziel, man schießt daneben. 

Zur Verdeutlichung dieses Gedankens sei eine kontrastierende Strategie zur Bewertung vorgestellt. Im Kontrast zum maß-stiftenden Denken der menschlichen Artnatur sei ein Denken des Guten nach mehrheitlich geteilten Maßstäben verdeutlicht. Die Mehrheit aller Menschen beurteilen die Güte, die Gesamtqualität eines Lebens nach dem Menge an verfügbaren Geld, nach erworbenen Prestige, nach demonstrierten Leistungswillen, Macht, Ruhm, Ehre, Kindern, Frauen, den Freuden, die man angesammelt hat u. dgl. m. 

In dieser Bewertungshaltung wird ein Gut und dessen Verfügbarkeit bzw. dessen Konsum als Kriterium für die Güte des Lebens überhaupt genommen. In der Folge werden eben jene Güter angestrebt und herbeigewünscht, die zur Bemessung herangezogen wurden. (Wir können sagen, sie bevölkern dadurch die Phantasie über ein gutes Leben.)

Die Strategie zur Bewertung eines Lebens, das gut ist, welche hingegen von den maßgeblichen Denkern gewählt wurde, ist ein wenig abweichend. Sie nehmen jene genannten Güter nicht so in ihre Logik auf und gehen die Frage nach dem Guten anderes an. Sie fragen nach dem, was ein Mensch sei und welche natürlichen Kräfte er habe und welche natürliche Ausstattung er durch Geburt mitbringe. 

Aristoteles und Platon sind sich einig, dass die Menschheit als natürliche Art betrachtet werden muss: Menschen sind Naturprodukte, Menschen stehen in einem Art-Zusammenhang, sie werden gezeugt und sind zeugungsfähig und in jeder Generation erhält sich die Gattung und pflanzt sich fort. Mensch-Sein ist eben dasselbe wie Eigenschaften der Gattung Mensch zu haben. Metaphysisch interessant ist hier die Frage: Von welcher Art die Kraft das Lebens, Strebens, Drängens, Fortpflanzens sei und ob irgendeine intelligente Kraft im Universum das Wesen des Menschen intendiert, also beabsichtigt und planvoll designt, eingesetzt hat. 

Berühmt geworden sind die Definitionen des Aristoteles, dass der Mensch eine rationale Artnatur habe und dass er von Natur aus Gruppen bilde, die sich nach Regeln organisieren. Rationale Artnatur ist dasselbe wie Denken und Philosophieren können. Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Tier. Dieses Tier bildet Gruppen und organisiert sein Leben in diesen Gruppen durch Regeln, Hierarchien und sozialen Status. Dies ist das Politische am Menschen, der Mensch ist auch ein politisches Lebewesen. 

Und genau vor diesem Denken beantwortet Aristoteles nun die Frage nach einem guten Leben: Ein menschliches Leben können wir gut nennen, wenn es in den Dimensionen Denken und Sozialleben gelebt wurde. Denken und Sozialleben sind gewichtige Faktoren für die Gleichung, an deren anderen Ende das gute Leben steht. Die Ausübung des Denkens und die Ausübung der sozialen Rolle sind für dieses Denken maßgebend für das gute Denken. 

Ich will hier nicht Aristoteles’ Ethik ausführen. Dazu gibt es berufenere Quellen als mich. Ich möchte bloß die Idee zur Ethik ausführen. 

Die Ethiken der Klassischen Epoche sind sogenannte Güter-, Tugend-, Strebeethiken. Sie buchstabieren als Weisheitslehre aus, welche Güter für ein gutes Leben nötig sind, welche Haltung zu diesen Gütern eingenommen werden soll und welche Wünsche überhaupt klug sind. 

Antike Ethiken haben eine den ganzen Menschen fordernde Aufmachung: Sie sind verbunden mit dem im Leben wurzelnden Entschluss eines Menschen, der sich auf sie verpflichtet und sie lebt. Sie setzten eine Entscheidung voraus. Sie stellen eine Lebensform vor, in die der Mensch sich einüben muss. 

Diese Art der Ethik macht uns heutigen Furcht. Wir fürchten unsere Autonomie zu verlieren, und zwar in dem Moment, in dem wir uns auf die Leitung der Lehre einlassen. Die ethische Lehre als überliefertes System von Übungen, notwendig zu erlernenden Tugenden, von Disziplin gegen die eigenen momentanen Wünsche und Bedürfnisse geht einher mit dem Charisma des Bedrohlichen, Einschränkenden, Einengenden. Wir liberalen Individualisten können nicht anderes als hier Gefahr zu spüren: Es ist jene Kraft, die wir ablehnen, wenn wir ernsthafte Gläubige von ihrer Religion reden hören, davon dass sie sich einem Gott beugen. 

Auf analoge Weise müssen wir uns der Natur des Lebendigen beugen – das ist die Idee der antiken Ethik. Das Maß, an dem gemessen ein Leben gut genannt wird, liegt in der Natur des Lebendigen selbst. Die faktische Vielfalt an ethischen System aus der Klassischen Zeit der philosophischen Ethiken – Neuplatonismus, Aristotelismus, die Systeme der kleinen Sokratiker, die Pythagoreer, die Skeptiker, die Akademiker, die Stoiker, die Epikureer – diese Vielfalt zeigt nur, dass die Natur des Lebendigen verschiedentlich bestimmt werden kann bzw. aus der Bestimmung verschiedentliche Systeme entstehen können. Der Gedanke aber, der zu Grunde liegt, ist bei allen System gleich: Das Maß für das gute Leben liegt in der Natur des Lebendigen.   

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