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Über Selbstüberwindung und Wachstum (Stirb und Werde)

Den letzten Beitrag habe ich mit einem Gedicht von Goethe beendet. Diesen will ich mit einem anfangen lassen.

Johann Wolfgang von Goethe
Selige Sehnsucht

[Auszug]

Lange hab’ ich mich gesträubt,
Endlich gab ich nach;
Wenn der alte Mensch zerstäubt,
Wird der neue wach;


Und solang Du dies nicht hast,
Dieses „Stirb und Werde“
Bist Du noch ein trüber Gast
Auf der schönen Erde.

Es entstammt dem Zyklus „West-Östlicher-Diwan,“ in welchem Goethe sich abarbeitet an orientalischen Weisheitslehren. Die erste Strophe des hier zitierten Auszugs ist aber ein späterer Zusatz; nur die letzte hier genannte Strophe taucht im Original auf.

Ich möchte mit diesem Gedicht auf ein Thema zusteuern, das mich philosophisch packt und seit Jahren nicht loslässt. Es ist das Thema des Wachstums und der Erneuerung durch Loslassen und Selbstüberwindung. Dieses Thema steckt in den Zeilen Goethes genial verpackt.

Wer sich schonmal bewusst dabei erlebt hat, was es als Person bedeutet über sich selbst hinauszuwachsen, weiß, was „stirb und werde“ bedeutet. Man muss einen Teil von sich sterben lassen, um ein neuer Mensch zu werden. Der alte Mensch muss blass werden, seine eigene Identität und die falschen Verhaltensmuster müssen so fein werden, dass sie zerstäuben (wie Goethe es sagt). Man muss dieser Art von Selbsttod – welcher natürlich nicht der physische Tod ist – mit Offenheit entgegentreten. Und wer kennt es nicht, dieses Sträuben? Sich sträuben gegen Veränderung.

Ein neuer Mensch werden? Mich ändern? Warum? Ich bin doch gut genug! Meine größte Stärke ist es, dass ich seit 20 Jahren derselbe bin! Du kannst mir trauen. Ich bin gut so wie ich bin. – Dies ist die Stimme der Verweigerung. Folgen wir diesen Argumenten, dann haben wir Angst, uns selbst zu verlieren. Goethe nennt die Menschen, die Angst um sich selbst haben allein deshalb, weil sie nicht wissen, was sie sonst noch sein könnten: trübe Erdengäste. Da, wo ich herkomme, nennt man sie manchmal trübe Tassen. Solch trübe Tassen fürchten die Veränderung, weil sie etwas neues bringt. Aus keinem anderen Grund. Sie fürchten die Transformation, weil sie etwas sterben lässt.

Dahinter steckt eine philosophische Angst. Jeder Wechsel bringt Vernichtung. Das Alte wird zum Neuen dadurch, dass es stirbt. Wer sich nicht loslassen will, der setzt sich letztlich gegen die Veränderung zur Wehr, denn er fürchtet um sich selbst, um alles, was er hat.

In der Natur kann die Vernichtung des Alten oft der Anfang neuen Lebens sein. Es gibt Spinnen, die sich ihrem Nachwuchs als Nahrung anbieten. Weniger nekromantisch ist das Bild vom toten Wald, das Jordan Peterson manchmal bringt: In Urwäldern stapelt sich am Boden über die Jahre das Totholz; selbst die Myriaden von Insekten und Bakterien sind mit dem Kompostieren des Totholzes überfordert. Deswegen ist der Blitz und der dadurch entzündete Waldbrand so überlebenswichtig für das Ökosystem Urwald. Der Waldbrand schafft das Totholz weg. Die Rinden der Bäume bewirken einen Schutz gegen den Brand. Nach dem Brand ist der Boden vom Ballast erlöst und die Keimlinge der Bäume können sich ungehemmt gegen die Sonne strecken. Eine neue Generation Wald beginnt hier. Der tote Überschuss des Alten war ein Hemmnis für das neue; seine Vernichtung brachte den Zyklus ans Laufen.

Was ist der tote Überschuss in meinem Persönlichkeitssystem? Auch meine Überzeugungen, meine Gewohnheiten, meine Identitäten und meine Loyalitäten sind manchmal wie das Totholz, das die zarten Triebe meiner Selbst beim Wachstum hemmt.

Stirb und werde. Das ist die Antwort für jemanden, der gehemmt wird durch den Ballst der früheren Anpassungen an seine Welt. Denn das sind Überzeugungen, Gewohnheiten. Identitäten und Loyalitäten meist: Anpassungen an Menschen, die ich regelmäßig treffe. Anpassungen Pflichten, die ich aufgrund von Berufsrollen zugewiesen bekomme. Anpassungen an Situationen, die ich im Alltag begegne. Wenn sich mein Leben ändert (oder wenn ich mich selbst ändere, z. B. erwachsen werden), dann ändert sich die Umwelt. Logischerweise folgt daraus, dass meine erworbenen Anpassungen unzeitgemäß, unsachgemäß, unpassend, objektlos, leer, hohl und dergleichen werden. Wählen Sie das Wort zur Beschreibung des Umstands selbst.

Es sind deshalb die bedeuteten Wechsel in unserem Leben, welche uns belasten. Dies kann der Wechsel von Schule zu Beruf, von Kind zu Erwachsenen, von Wohnungsort zu Wohnungsart, der Verlust von Freunden, der Jobwechsel, der Jobverlust, die Verrentung und dergleichen sein. Immer wenn wir uns an die Welt anpassen müssen, müssen wir einen Teil von uns sterben lassen.

Interessanterweise müssen wir das auch tun, wenn wir weise werden möchten. Denn der Weise verhält sich zum Erwachsenen, wie der Erwachsene zum Kind. Aber dieses Thema möchte ich hier nicht vertiefen.

Stirb und werde macht Angst, weil die Zukunft ungewiss ist. Wer wird man sein, wenn man nicht mehr der ist, der ist man war? Goethe tröstet im Gedicht, dass in unmittelbarer Folge der Transformation nach der Überwindung eines Selbst gleich der neue Mensch wartet. Und er hat nicht unrecht damit.

Eine der Medien-Theologinnen der ev. Kirche hat diesen Trost so ausgedrückt: Du kannst nicht tiefer Fallen als in die Hand Gottes. Ob man damit etwas anfangen kann, sei jedem selbst überlassen. Es ist jedoch derselbe Gedanke: Es gibt nach dem Verlust des Selbst (der Überzeugungen, Gewohnheit, Identitäten, Loyalitäten) immer einen Hof in der Seele, in dem man geborgen ist. Der Selbstverlust ist keine Vernichtung. Zerstört wird eine Person, nicht die Existenz. Wie bei einer faulen Zwiebel wird die oberste Schicht entfernt, der Kern bleibt bestehen. Das Nichts das droht, ist das Objekt der selbsterzeugten Furcht.

Dieser Furcht sich zu stellen, ist das tugendhafte Moment am Menschen, der sich selbst überwinden kann.

Ich möchte noch einmal auf die Moral des letzten Beitrags zurückkommen. Dort begegnete uns im Stück von T.S.Eliot jene junge Frau, die sich an den Psychologen auf der Party mit einer zutiefst metaphysische Bemerkung wandte. Sie wünsche sich, dass sie selbst der Ursache für ihr Leiden (ihre Furcht, ihre Sorgen, ihre Ängste) sei und nicht etwas anderes in der Welt. Denn, so ihre Befürchtung, wäre ihr Leiden durch die Konstellation in der Natur verursacht, so wäre es für immer da.

Jordan Peterson merkt an, dass im jüdisch-christlichen Westen sich die Technik herausgebildet hat, dass bei einem Konflikt zwischen der Welt und der Person, die Person geopfert werden müsse, um sich des Konflikts zu entledigen. Der Mensch muss einen Teil seines Wesens verbrennen lassen (wie jenes Totholz), um als neuer Mensch zu wachsen.

Peterson meint zudem, dass hier das alte mythische Bild vom brennenden Vogel, dem Phönix, seinen Grund hat. Er zerfällt von Zeit zu Zeit zu Asche, um gesünder und jünger zu werden. Dies ist ein Paradox unserer Psyche: So existieren wir in diesem Universum. Um uns zu erneuern, muss ein Teil von uns sterben.

Das Stirb und Werde im Gedicht Goethes ist so besehen eine Tugend. Es ist eine Sinnesart sich selbst gegenüber zu begegnen: Wer kann ich noch werden? Ist ein Teil von mir die Ursache für mein Leiden?

Der geneigte Leser wird vielleicht erfahren wollen, dass das Wort ‚Person‘ als philosophisch-psychologisches Fachwort viel schillerndere Bedeutungen hat als nur ‚Mensch.‘ Ich möchte das dreimal unterstreichen. Das Wort Person ist in der normalen Sprache ein Zählwort: „Bitte nicht mehr als fünf Personen im Aufzug.“

In der Sprache der Wissensgebiete Philosophie und Psychologie aber hat dieses Wort immens genauere Bedeutung. Person ist ein Teil unseres Selbst. Manchmal bedeutet Person ‚Maske,‘ etwa in dem Sinne, dass wir alle auf der Bühne des Alltags unsere Pflichten und Rollen einnehmen wie die Schauspieler. Wie jener Kellner, von dem J.P. Sartre im Buch „Das Sein und das Nichts“ schreibt: Wie gekonnt er die Miene zieht, wie er sein Tablet hält, die Gäste empfängt, wie er sich professionell verhält, nicht auffällt. Wir alle können Profis sein, auf der Arbeit, im Privaten. Doch das sind Masken, die wir aufsetzen. Diese Masken können wir auch wegwerfen – das wäre ein erster Schritt zu stirb und werden.
Manchmal heißt Person auch ‚Mind-Set,‘ das ist eine bestimmte Art wie wir unsere Überzeugungen und Gewohnheiten ausgebildeter haben, was wir wichtig finden, und wem unsere Loyalität gilt. Auch dieses Mind-Set kann sterben, um Platz zu machen.
Es ist mir daran gelegen, präzise zu reden. Die Person zu opfern, um besser zu leben, um aufzublühen, um sich zu erneuern – das ist der Aufruf zur Überwindung eines Stück des Selbst.

Selbstüberwindung gibt dem inneren Menschen Kraft um Neues wachsen zu lassen. Probieren Sie es aus!

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