Im vorherigen Beitrag „Das Maß des guten Lebens in der klassischen Philosophie“ habe ich von der Natur-Gemäßheit geschrieben. Die Natur gibt ein Maßstab ab, an dem gemessen das Leben als gut oder verfehlt betrachtet werden kann. Die Rede von Natur meint nicht eigentlich Wälder, Seen und Berge oder dergleichen. Es meint die Seinsweise des Lebewesens insofern es ein Repräsentant einer Art ist. Es ist ein philosphischer Begriff: Die Natur eines Dings ist dessen Artzugehörigkeit. So ist es die Natur des Berglöwen, dass er auf die Jagd geht. Und es ist die Natur des Gorillas, dass er in Gruppen lebt.
Ich bin in dieser Philosophie bewandert, weil ich sie studiert habe: Die Primärtexte, Kommentare, Interpretationen. Prominent und für mich persönlich maßgeblich ist Aristoteles: Er hat zu Lebzeiten dieses Denken von Seinsweise, Lebensform und Artnatur in einer Vorlesungsreihe ausgearbeitet, die später Metaphysik genannt wurde. Über Jahrtausende hatte die Metaphysik des Aristoteles Einfluss auf das Nachdenken über die Natur und die Position des Menschen in ihr. Als ich heute über meine Zeilen von gestern nachdachte, wurde mir der ideengeschichtliche Abstand bewusst, den wir heutigen zu diesem metaphysischen Denken haben. Über diesen Abstand will ich schreiben.
Im Tierschutz reden wir heute noch über die Gemäßheit. Ich nutze mit Absicht diese etwas gestelzte Art zu reden, weil sie auf den Kernpunkt des Antiken Denkens zielt: Das Maß für das Gute liegt in der Natur selbst. Artgemäße Haltungsformen werden als Idee ebenso konzipiert wie dazumal über das gute Leben auch von Menschen geredet wurde. Wenn das Leben sich vollzieht in den Bahnen, die die Art vorsieht: Wenn die grundlegenden Bedürfnisse gestillt, wenn alle Entwicklungspotentiale des Lebewesen ermöglicht werden, wenn die natürliche Kraft des Lebens sich der Art gemäß entfalten kann, dann ist dieser Vollzug der vitalen Kräfte der bestmögliche.
Bloß ist es mit der Natur des Menschen nicht so einfach. Von unseren Nutztieren meinen wir recht verlässlich angeben zu können, was die artgemäße Haltung ist. Von menschen-gemäßer Lebensweise redet aber kaum jemand. Die ideengeschichtlichen Gründe liegen in der implizit unterstellen, aber kaum je beleuchteten Mensch-Tier-Unterscheidung und in der metaphysischen Freiheitsphilosophie. Wer sich ein bisschen in den einschlägigen Debatten auskennt, der weiß, dass es sich hier um eine anthropologische Fragestellung handelt und dass unser Selbstverständnis als Gattung einer philosophischen Anthropologie mit eben jenen Schwerpunkten entstammt: Erstens, der Mensch ist ein sehr besonderes Lebewesen (seine Besonderheit ist definierend für die begriffliche Trennung Mensch-Tier) und, zweitens, der Mensch ist von einer außergewöhnlichen Besonderheit: Er ist unbestimmbar, nicht feststellbar, von ihm kann es keine Definition geben.
Es ist der Gedanke der außergewöhnlichen Besonderheit, welche uns von der Klassischen Philosophie trennt: Der Mensch ist im Kern ohne eine Artnatur. Er kann sich und seine Welt gestalten, er ist plastisch in seinem Verhalten, instinktlos, lebensfähig nur durch technische Anpassung, vermittelt Erfahrungswissen nur in Kultur und Institution. Der Mensch ist unvollendbar, nicht abgeschlossen, besiedelt keine Nische. In diesem Denken ist der Nabel zur Artnatur getrennt: Des Menschen Natur ist, dass er keine Natur hat.
Dieser modernde Gedanke lässt es nur sehr schwer zu, sich in das skizzierte Antike Denken hineinzuversetzen. Wo der Mensch nicht feststellbar ist, gibt es auch kein Maß für das Gute, das in ihm läge. Wenn es wahr ist, dass er seinem Wesen nach Freiheit ist, dann ist das Maß für das Gute in der Entfaltung dieser Freiheit oder in der Erfahrung des Guten zu finden, die immer auch eine andere sein kann.
Das möglichst große Maß an individueller Freiheit als das Maß für das gute Leben zu nehmen, ist entsprechend eine moderne Philosophie: Es ist die Philosophie des Liberalismus.
Darf ich damit einverstanden sein, dass meine Natur als Freiheit bestimmt wird und dass das Maß der möglichen Ausübung derselben als das Maß für das gute Leben genommen wird?