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Kategorie: Allgemein

Den letzten Beitrag habe ich mit einem Gedicht von Goethe beendet. Diesen will ich mit einem anfangen lassen.
Johann Wolfgang von Goethe
Selige Sehnsucht
[Auszug]
Lange hab’ ich mich gesträubt,
Endlich gab ich nach;
Wenn der alte Mensch zerstäubt,
Wird der neue wach;
Und solang Du dies nicht hast,
Dieses „Stirb und Werde“
Bist Du noch ein trüber Gast
Auf der schönen Erde.
Es entstammt dem Zyklus „West-Östlicher-Diwan,“ in welchem Goethe sich abarbeitet an orientalischen Weisheitslehren. Die erste Strophe des hier zitierten Auszugs ist aber ein späterer Zusatz; nur die letzte hier genannte Strophe taucht im Original auf.
Ich möchte mit diesem Gedicht auf ein Thema zusteuern, das mich philosophisch packt und seit Jahren nicht loslässt. Es ist das Thema des Wachstums und der Erneuerung durch Loslassen und Selbstüberwindung. Dieses Thema steckt in den Zeilen Goethes genial verpackt.
Wer sich schonmal bewusst dabei erlebt hat, was es als Person bedeutet über sich selbst hinauszuwachsen, weiß, was „stirb und werde“ bedeutet. Man muss einen Teil von sich sterben lassen, um ein neuer Mensch zu werden. Der alte Mensch muss blass werden, seine eigene Identität und die falschen Verhaltensmuster müssen so fein werden, dass sie zerstäuben (wie Goethe es sagt). Man muss dieser Art von Selbsttod – welcher natürlich nicht der physische Tod ist – mit Offenheit entgegentreten. Und wer kennt es nicht, dieses Sträuben? Sich sträuben gegen Veränderung.
Ein neuer Mensch werden? Mich ändern? Warum? Ich bin doch gut genug! Meine größte Stärke ist es, dass ich seit 20 Jahren derselbe bin! Du kannst mir trauen. Ich bin gut so wie ich bin. – Dies ist die Stimme der Verweigerung. Folgen wir diesen Argumenten, dann haben wir Angst, uns selbst zu verlieren. Goethe nennt die Menschen, die Angst um sich selbst haben allein deshalb, weil sie nicht wissen, was sie sonst noch sein könnten: trübe Erdengäste. Da, wo ich herkomme, nennt man sie manchmal trübe Tassen. Solch trübe Tassen fürchten die Veränderung, weil sie etwas neues bringt. Aus keinem anderen Grund. Sie fürchten die Transformation, weil sie etwas sterben lässt.
Dahinter steckt eine philosophische Angst. Jeder Wechsel bringt Vernichtung. Das Alte wird zum Neuen dadurch, dass es stirbt. Wer sich nicht loslassen will, der setzt sich letztlich gegen die Veränderung zur Wehr, denn er fürchtet um sich selbst, um alles, was er hat.
In der Natur kann die Vernichtung des Alten oft der Anfang neuen Lebens sein. Es gibt Spinnen, die sich ihrem Nachwuchs als Nahrung anbieten. Weniger nekromantisch ist das Bild vom toten Wald, das Jordan Peterson manchmal bringt: In Urwäldern stapelt sich am Boden über die Jahre das Totholz; selbst die Myriaden von Insekten und Bakterien sind mit dem Kompostieren des Totholzes überfordert. Deswegen ist der Blitz und der dadurch entzündete Waldbrand so überlebenswichtig für das Ökosystem Urwald. Der Waldbrand schafft das Totholz weg. Die Rinden der Bäume bewirken einen Schutz gegen den Brand. Nach dem Brand ist der Boden vom Ballast erlöst und die Keimlinge der Bäume können sich ungehemmt gegen die Sonne strecken. Eine neue Generation Wald beginnt hier. Der tote Überschuss des Alten war ein Hemmnis für das neue; seine Vernichtung brachte den Zyklus ans Laufen.
Was ist der tote Überschuss in meinem Persönlichkeitssystem? Auch meine Überzeugungen, meine Gewohnheiten, meine Identitäten und meine Loyalitäten sind manchmal wie das Totholz, das die zarten Triebe meiner Selbst beim Wachstum hemmt.
Stirb und werde. Das ist die Antwort für jemanden, der gehemmt wird durch den Ballst der früheren Anpassungen an seine Welt. Denn das sind Überzeugungen, Gewohnheiten. Identitäten und Loyalitäten meist: Anpassungen an Menschen, die ich regelmäßig treffe. Anpassungen Pflichten, die ich aufgrund von Berufsrollen zugewiesen bekomme. Anpassungen an Situationen, die ich im Alltag begegne. Wenn sich mein Leben ändert (oder wenn ich mich selbst ändere, z. B. erwachsen werden), dann ändert sich die Umwelt. Logischerweise folgt daraus, dass meine erworbenen Anpassungen unzeitgemäß, unsachgemäß, unpassend, objektlos, leer, hohl und dergleichen werden. Wählen Sie das Wort zur Beschreibung des Umstands selbst.
Es sind deshalb die bedeuteten Wechsel in unserem Leben, welche uns belasten. Dies kann der Wechsel von Schule zu Beruf, von Kind zu Erwachsenen, von Wohnungsort zu Wohnungsart, der Verlust von Freunden, der Jobwechsel, der Jobverlust, die Verrentung und dergleichen sein. Immer wenn wir uns an die Welt anpassen müssen, müssen wir einen Teil von uns sterben lassen.
Interessanterweise müssen wir das auch tun, wenn wir weise werden möchten. Denn der Weise verhält sich zum Erwachsenen, wie der Erwachsene zum Kind. Aber dieses Thema möchte ich hier nicht vertiefen.
Stirb und werde macht Angst, weil die Zukunft ungewiss ist. Wer wird man sein, wenn man nicht mehr der ist, der ist man war? Goethe tröstet im Gedicht, dass in unmittelbarer Folge der Transformation nach der Überwindung eines Selbst gleich der neue Mensch wartet. Und er hat nicht unrecht damit.
Eine der Medien-Theologinnen der ev. Kirche hat diesen Trost so ausgedrückt: Du kannst nicht tiefer Fallen als in die Hand Gottes. Ob man damit etwas anfangen kann, sei jedem selbst überlassen. Es ist jedoch derselbe Gedanke: Es gibt nach dem Verlust des Selbst (der Überzeugungen, Gewohnheit, Identitäten, Loyalitäten) immer einen Hof in der Seele, in dem man geborgen ist. Der Selbstverlust ist keine Vernichtung. Zerstört wird eine Person, nicht die Existenz. Wie bei einer faulen Zwiebel wird die oberste Schicht entfernt, der Kern bleibt bestehen. Das Nichts das droht, ist das Objekt der selbsterzeugten Furcht.

Dieser Furcht sich zu stellen, ist das tugendhafte Moment am Menschen, der sich selbst überwinden kann.
Ich möchte noch einmal auf die Moral des letzten Beitrags zurückkommen. Dort begegnete uns im Stück von T.S.Eliot jene junge Frau, die sich an den Psychologen auf der Party mit einer zutiefst metaphysische Bemerkung wandte. Sie wünsche sich, dass sie selbst der Ursache für ihr Leiden (ihre Furcht, ihre Sorgen, ihre Ängste) sei und nicht etwas anderes in der Welt. Denn, so ihre Befürchtung, wäre ihr Leiden durch die Konstellation in der Natur verursacht, so wäre es für immer da.
Jordan Peterson merkt an, dass im jüdisch-christlichen Westen sich die Technik herausgebildet hat, dass bei einem Konflikt zwischen der Welt und der Person, die Person geopfert werden müsse, um sich des Konflikts zu entledigen. Der Mensch muss einen Teil seines Wesens verbrennen lassen (wie jenes Totholz), um als neuer Mensch zu wachsen.
Peterson meint zudem, dass hier das alte mythische Bild vom brennenden Vogel, dem Phönix, seinen Grund hat. Er zerfällt von Zeit zu Zeit zu Asche, um gesünder und jünger zu werden. Dies ist ein Paradox unserer Psyche: So existieren wir in diesem Universum. Um uns zu erneuern, muss ein Teil von uns sterben.
Das Stirb und Werde im Gedicht Goethes ist so besehen eine Tugend. Es ist eine Sinnesart sich selbst gegenüber zu begegnen: Wer kann ich noch werden? Ist ein Teil von mir die Ursache für mein Leiden?
Der geneigte Leser wird vielleicht erfahren wollen, dass das Wort ‚Person‘ als philosophisch-psychologisches Fachwort viel schillerndere Bedeutungen hat als nur ‚Mensch.‘ Ich möchte das dreimal unterstreichen. Das Wort Person ist in der normalen Sprache ein Zählwort: „Bitte nicht mehr als fünf Personen im Aufzug.“
In der Sprache der Wissensgebiete Philosophie und Psychologie aber hat dieses Wort immens genauere Bedeutung. Person ist ein Teil unseres Selbst. Manchmal bedeutet Person ‚Maske,‘ etwa in dem Sinne, dass wir alle auf der Bühne des Alltags unsere Pflichten und Rollen einnehmen wie die Schauspieler. Wie jener Kellner, von dem J.P. Sartre im Buch „Das Sein und das Nichts“ schreibt: Wie gekonnt er die Miene zieht, wie er sein Tablet hält, die Gäste empfängt, wie er sich professionell verhält, nicht auffällt. Wir alle können Profis sein, auf der Arbeit, im Privaten. Doch das sind Masken, die wir aufsetzen. Diese Masken können wir auch wegwerfen – das wäre ein erster Schritt zu stirb und werden.
Manchmal heißt Person auch ‚Mind-Set,‘ das ist eine bestimmte Art wie wir unsere Überzeugungen und Gewohnheiten ausgebildeter haben, was wir wichtig finden, und wem unsere Loyalität gilt. Auch dieses Mind-Set kann sterben, um Platz zu machen.
Es ist mir daran gelegen, präzise zu reden. Die Person zu opfern, um besser zu leben, um aufzublühen, um sich zu erneuern – das ist der Aufruf zur Überwindung eines Stück des Selbst.
Selbstüberwindung gibt dem inneren Menschen Kraft um Neues wachsen zu lassen. Probieren Sie es aus!
Der innere Mensch ist wandelbar

In meinen Beiträgen handelte ich bisher hauptsächlich über die Selbstkontrolle und die Selbststeuerung. Die Selbstkontrolle habe ich kontrastiert mit dem, was überhaupt nicht kontrolliert werden kann. Selbstverständlich rede ich hier nicht von realen Dingen, sondern von der Verallgemeinerung von Erfahrung der Kontrolle oder der Ohnmacht. Den Bereich der Ohnmacht nannte ich das Unverfügbare. Dies umfasst z. B. den natürlichen Lauf der Dinge, den Charakter anderer Menschen oder das In-Kraft-Sein dieser oder jenes Gesetztes. Ich erfahre Unverfügbarkeit, wenn ich mit Wünschen und Willen nichts an der Faktizität verändern kann. Die Realität der Unverfügbarkeit zeigt sich mir im Erleben von Widerständigkeit. Dabei ist das Unverfügbare nicht zwingend etwas außer mir; schon das Faktum, dass mein Leib altert (der Lauf der Dinge), zeigt mir, dass ich an mir etwas unverfügbar ist. Ferner ist etwa auch unverfügbar, ob ich gerade diese oder jene seelische Erregung (Affekt) erfahre. Kontrollieren kann ich nicht das Auftauchen – welches, wie wir wissen, bio-chemisch gestreut wird (Lauf der Dinge). Kontrollieren kann ich, ob ich mich dem Affekt anheimgebe; alternativ kann ich ihn beobachten, anerkennen, auflösen.
Dem Bereich des Unverfügbaren gegenüber gestellt war die frohe Botschaft vom Bereich der Kontrolle. In der christlichen Tradition nennt man diesen Bereich den ‚inneren Menschen,‘ ich bin glücklich mit dieser Benennung, ich finde sie passend. Ich zwinge sie niemanden auf. Alternativ kann man diesen Bereich auch das Selbst nennen, obwohl das Selbst nur die Art des Zugriffs darauf ist. In loser Anlehnung an die Tradition des Deutschen Idealismus bietet es sich alternativ an, vom endlichen Bewusstsein zu reden. Damit ist der Inbegriff aller intellektiven, emotiven und volitiven Akte gemeint, die als das Subjektive einer objektiven Wirklichkeit gegenüberstehen.**
Der innere Mensch jedenfalls führt das eigentümliche Dasein, dass er in die Welt schaut. Keine andere Sache der Welt hat diesen Blick der Subjektivität. Es ist das Subjektive – das wir selbst sind. Und dieses Ich hat das eigenartige Schicksal nicht vollkommen Teil dieser Welt zu sein: denn es hat Perspektive auf die Welt. Ich meine hier den vom Philosophen Schopenhauer so genannten „Weltknoten:“ Die Welt ist in meinem Kopf und mein Kopf ist in der Welt. Das Ich ist das, was schaut. Es ist das, was man in einigen Traditionen in Indien den „Seher der Sicht, der nicht gesehen wird“ nennt.
Der innere Mensch jedenfalls schaut nicht bloß, er kann sich auch zu sich selbst verhalten. Seinen Charakter kann er ausformen. Er kann das Resultat seiner eigenen Anstrengungen, Vorsätze und Entscheidungen werden. Das schafft er durch Kontrolle und Steuerung seiner Pläne, seiner Affekte und seiner Impulse. Wie der Wagenlenker im Gleichnis Platons muss er dabei stets den Weg im Auge behalten. Er muss sich orientieren an einem Stern oder einem ähnlichen Fixpunkt, um über seine Anstrengung im Umgang mit sich nicht die Fahrtrichtung zu verlieren.
Ich möchte den geneigten Leser in den kommenden Beiträgen mitnehmen auf eine intellektuelle Reise dahin, diesen inneren Menschen besser zu verstehen. Auf dieser Reise werde ich viel Anleihen bei der Existenzphilosophie machen.
Beginnen möchte ich mit einer Geschichte aus dem zweiten Akt von T.S. Eliots Komödie „Die Cocktailparty“ ****
Eine junge Frau wendet sich im Rahmen einer Party mit ihren psychischen Problemen an einen Arzt, der ebenfalls ein Gast ist. Sie schildert ihm ihre Symptome – Unbehagen, Zweifel, Reue – und schiebt ausdrücklich nach, dass sie sich wünsche, dass die Ursache für diese Probleme in ihrem eigenen Verhalten lägen.
Der Arzt, der bis dahin ganz professionell der Symptomatik gefolgt ist, reagiert verblüfft über den Nachsatz und fragt verwundert nach, ob sie sicher sei, dass sie sich das Wünschen könne.
Ja, antwortet die Frau. Sollten ihre Probleme ihre Ursache in der objektiven Realität haben, dann wären die Probleme doch unabänderlich. Und wenn das der Fall sein sollte, dann gehörten sie doch zur Struktur der Welt dazu. Das wäre aber doch fürchterlich. Denn dann würden ihre Probleme ja niemals verschwinden. Das sei der Grund, weshalb sie hoffe, dass das Problem bei ihr läge; denn dann könne sie sich ändern.
Inspiriert diese Geschichte nachzuerzählen hat mich Jordan Peterson, welcher sie selbst in seinen Reden zur Selbsttransformation benutzt. Die junge Frau hat hier einen tiefen Gedanken: Lägen die Probleme, die uns psychisch zu schaffen machen, in der Struktur der Wirklichkeit begründet, dann wäre das tatsächlich fürchterlich. Dann wäre ihr permanentes Dasein unabänderlich und ihr Auftreten unausweichlich. Die gute Nachricht ist vielleicht, dass das Universum, in dem wir leben, so nicht ist. Unser Universum ist so konstelliert, dass Unbehagen, Reue, Zweifel, Angst, Sorge und andere Leiden das Resultat von persönlichen Werten und Einstellungen sind. Die junge Frau hofft zu Recht, dass ein Wechsel von Werten und Einstellungen – eine transformative Erfahrung, ein Wechsel in der Persönlichkeit – ihr helfen kann. Sie ist auf dem richtigen Weg, wenn sie die Ursache der Problematik auch bei sich sucht.
– Ich habe die berufsethische Pflicht an dieser Stelle dies klarzustellen:
Die Rede ist hier von sogenannten neurotischen Leiden, welches sich oft in Zuständen von Angst, Furcht, Sorge, Zweifel ausdrückt. Neurotische Leiden haben etwas mit der Fehlanpassung des mentalen Systems zu tun; sie können durch Gesprächstherapie und kognitive Verhaltenstherapie (und andere Verfahren) verändert werden. ABER: Einige psychische Leiden wie Schizophrenie oder Depression haben organische Ursachen und fallen in den Bereich des Unverfügbaren; ihre Medikation ist zwingend erforderlich, Selbsttransformation kann nur begleitend therapeutischen Nutzen haben. –
Im stoischen Sinne ist sich die junge Frau gewahr, dass sie sich nach Innen wenden muss, um eine Lösung zu finden. Was ferner in dieser Geschichte durchscheint ist ein Gedanke von Dankbarkeit, Dankbarkeit dafür, dass wir Wesen sind, die veränderungsfähig sind. Unsere psychische Konstitution geht nicht in der Faktizität auf. Sie ist abänderbar. Dafür können wir dankbar sein.
An diesem Themengebiet – Selbsttransformation durch Einstellungswandel – werde ich in den nächsten Beiträgen arbeiten.
Mir ist danach, dich, geneigter Leser, mit einem schönen Gedicht zu verabschieden. Es ist von Goethe und heißt Vermächtnis. Insbesondere die dritte Strophe – sofort nun wende dich nach innen, das Zentrum findet du da drinnen – passt thematisch zu dem heutigen Beitrag.
Johann Wolfgang von Goethe
Vermächtnis
Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!
Das Ewige regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig, denn Gesetze
Bewahren die lebendigen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, faß es an!
Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn.
Sofort nun wende dich nach innen,
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen;
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
Den Sinnen hast du dann zu trauen;
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig,
Und wandle sicher wie geschmeidig
Durch Auen reich begabter Welt.
Genieße mäßig Füll und Segen;
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.
Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr –
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.
Und wie von alters her, im Stillen,
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.
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Anmerkungen:
** Hier ist eingebettet die alte Definition des Geistes (lateinisch: mens) als der Inbegriff aller objektbezogenen Vorstellungen (Kognitionen) und intelligenten Schlussfolgerungen (Intellekt), der objektbezogenen Erregungszustände (Affekte und Emotionen) und der Handlungsimpulse (Volitionen, der Wille).
**** T. S. Eliot, Die Cocktailparty, Suhrkamp Taschenbuchverlag 1950, deutsche Übersetzung, S. 134.
In Übereinstimmung mit der Natur leben

Die letzten Beiträge zur Selbstkontrolle sollten einen Sinn für die stoische Lebensphilosophie vermitteln. Selbstkontrolle war für Stoiker eine der wertvollsten Haben, die man sich im Leben erarbeiten kann. Stoische Charakterbildung, stoische moralische Erziehung und stoische spirituelle Übung hat Selbststeuerung zum hohen Ziel. Denn, so sagt es die Klugheit, wer sich kontrollieren kann, der ist für alle möglichen zukünftigen Fälle zugerüstet. Der Kontrollierte wird ein gelingendes Leben führen.
So wie alle lebensphilosophischen Schulen beruft sich auch die stoische auf Sokrates. Dessen Lieblingsthema beim Philosophieren war: Was ist das beste, das der Mensch aus sich machen kann? – Die Stoiker antworten darauf mit stolzer Brust: Sich selber kennen und sich kontrollieren. Warum das denn so sei? Weil es von Vollkommenheit zeugt, dass wir leben, wie es unserer Natur entspricht. Der Mensch hat die Pflicht, seine natürlichen Anlagen zu entwickeln.
Diesen für die stoische Lebensart zentralen Gedanken will ich hier erläutern. Es wird sich herausstellen, dass er auch heute noch sinnvoll in ein philosophisches Leben eingegliedert werden kann. Stichwortartig hat sich diese alte Lehre erhalten in dem Spruch: „In Übereinstimmung mit der Natur leben – das ist die vollkommenste Art zu leben.“
Die Gründer der Stoa: Zenon, Kleanthes, Chrysipp
Massimo Pigliucci, ein zeitgenössischer Lehrer des Stoizismus, leitet seine Ausführung zu diesem Thema immer ein mit dem Witz von den Hippies: In Übereinstimmung mit der Natur leben, bedeutet nicht nackt in den Wald gehen und Bäume umarmen. Das ist völlig in Ordnung, aber nicht die Praxis nach stoischer Lehre.
In Übereinstimmung mit der Natur leben – dieser Wahlspruch für die stoische Lebensart – führt zurück auf die ersten Stoiker in Athen. Der Gründer der Stoa, Zenon von Kition, hat gelehrt: „Einstimmig sollst du leben.“ Er meint damit: Du sollst mit deinem Wesen übereinstimmen; vollziehe keine Tätigkeiten, die deinem Weisen widersprechen.
„Einstimmig sollst du leben.“
Zenon von Kition
Wohlgemerkt: Für den Stoiker geht es um das Praktische: Wie bringen wir Worte und Taten zusammen? Wie Bedürfnisse und Befriedigung? Wie Wünsche und Handlungen? Wie werden aus bloßen Plänen und Vorhaben Verdienste und Erfolge? – Zenons Antwort ist grundlegend: Widerspreche bei allem, was du tust, niemals Dir selbst.
„Mit der Natur einstimmig sollst du leben.“
Kleanthes von Assos
Man kann sich vorstellen, dass diese sehr allgemeine Weisheitslehre viele Diskussionen über ihre Anwendung erzeugt hat. Kleanthes von Assos, der Nachfolger Zenons als Leiter der Schule, hat die Formel ergänzt zu: „Mit der Natur einstimmig sollst du leben.“
Die Natur ist im philosophischen Verständnis, das, was von sich aus existiert. Die Philosophen reden auch von der Natur eines Einzeldings. Mit der Natur von etwas ist immer gemeint, wie etwas gewachsen ist, von was von einer (natürlichen) Art es ist, seine (natürliche) Beschaffenheit, sein Wesen.
„Lebe einstimmig mit dir selbst und dem Universum, dann erreichst du Einstimmigkeit mit der Natur.“
Chrysippos von Soloi
Chrysippos von Soloi, der Nachfolger von Kleanthes, erklärt denn auch ferner: „Mit der Natur einstimmig soll man leben. Das bedeutet: Einstimmig mit sich und mit dem Universum.“
Mit anderen Worten: Die genannten Gründer der Stoa fordern uns auf zu prüfen, ob unsere Wünsche, Begierde, Pläne, Impulse usw. übereinstimmen mit unserer Natur und dem Universum. Den Maßstab für Richtig und Falsch entnimmt die stoische Lehre der Natur.
Was es für uns noch bedeuten kann
Wenn Sie, geneigter Leser, bis hierhin noch nicht ausgestiegen sind, möchte ich Ihnen gerne erläutern, was das zu bedeutet hat.
Das Anraten der Philosophen, man solle auf seine Übereinstimmung mit der Natur acht haben, bedeutet dreierlei:
EINS.
Lebe in Übereinstimmung mit der Allnatur,
das ist das Universum.
ZWEI.
Lebe in Übereinstimmung mit der Natur des Menschen,
das ist die Art von Lebewesen,
die du bist.
DREI.
Lebe in Übereinstimmung mit deiner individuellen
Natur, das ist dein persönliches Temperament.
Die erste Bedeutung erklärt
In der ersten Bedeutung verbirgt sich ein Gedanke, der heute nicht mehr gedacht wird: Das Universum ist ein lebendiges Wesen. Für die stoische Philosophie bedeutet in Übereinstimmung mit der Allnatur zu leben, dass man sich in den lebendigen Kosmos freiwillig eingliedert. Praktisch bedeutet das, dass man will, was geschieht (Wolle, was geschieht!). In meinem Beitrag am 14. Mai 2021 (Über das Unverfügbare) habe ich Chrysipps Lehrrede vom kosmischen Wagen erzählt:
Stelle dir einen Hund vor, der an einen Wagen festgebunden ist, welcher von Ochsen gezogen wird. Wenn der Hund klug ist, läuft er freiwillig und vergnügt mit; wenn er sich aber auf die Hinterbeine setzt und jault, wird er doch mitgeschleift. **
Auch wir Menschen sind an diesen Karren angebunden. Der Karren ist der Lauf der Dinge. Das Universum entwickelt sich in eine bestimmte Richtung. Die Laufrichtung des Karrens können wir nicht beeinflussen. Dumm ist der Köter, der sich in seinem Eigensinn und seiner Begierde weigert diesem Karren zu folgen. Er widersetzt sich den kosmischen Bändern, mit denen wir an den Karren gebunden sind. Das Ergebnis ist, dass dieser Köter unglücklich lebt. Anstatt zu wünschen, dass das geschehe, was geschieht, wünscht dieser Köter sich, dass sich dir Natur seinen Wünschen unterordne. Dies ist die Weisheit: Wünsche, dass geschehe, was vorbestimmt ist. Der Kosmos ist umverfügbar, versuche nicht ihn mit deinen Wünschen zu manipulieren. Dabei wirst du bloß scheitern.
„Verlange nicht, daß die Dinge gehen, wie du es wünschest, sondern wünsche sie so, wie sie gehen, und dein Leben wird ruhig dahin fließen.“
Epiktet, Handbüchlein der Stoischen Moral, VIII ****
Der Philosoph Epiktet wird sich Jahrhunderte danach auf diese Weisheit beziehen. Er spricht von einem Fuß, der auch mal durch den Schlamm gehen muss, um den Körper nach Hause zu tragen. Wäre es nicht eine Dummheit, wenn der Fuß sich beklagen würden darüber, dass er sich dreckig macht? Nein, weil der Fuß weiß, dass sein Werk dem höheren Zweck dient, den Körper nach Hause zu befördern, macht der Fuß auch das dreckige Geschäft gerne. So müsse der Mensch leben: Wissen, dass er in seiner Kleinheit auch mal dreckiges und unerfreuliches machen muss, damit das Größere (die Allnatur) gedeiht. – Wie gesagt: Diese Selbsterniedrigung unter ein vorbestimmtes Ziel des Kosmos, dieser Fatalismus des Hinnehmens von dem, was vom Kosmos vorgesehen ist usw. – dies ist der Teil der stoischen Lehre, der bei uns (zumindest bei den Menschen, die ich so kenne, und im allgemein im liberalen modernen aufgeklärten Abendland) kein Applaus mehr zusteht.
Die zweite Bedeutung erklärt
Es ist von allen Wesen allein der Mensch, der seine Situation, seine Stellung zur Allnatur und seine Position in der Allnatur durchschauen kann. Die Stoiker thematisierten den Menschen so, wo nahezu jede Philosophie. Der Mensch ist innerhalb des großen kosmischen Bands ein sehr spezieller Fall. „Im Menschen schlägt die Natur ein Auge auf,“ sagten die Deutschen Romantiker. „Das Tier ist am Pflog der Gegenwart angeschlagen, der Mensch lebt in Zukunft,“ sagt Friedrich Nietzsche. „Der Mensch ist die Krone der Schöpfung,“ sagt die jüdische Tradition.
Es ist ja unstrittig, dass wir Menschen andere Arten von Lebewesen kennen, die so sind wie wir. Wir kennen ähnliche Wesen, die Affen. Aber ich meine Wesen, die genau so sind wie wird.
Über Jahrhunderte war es unter philosophischen Logikern Sport die Einzigartigkeit des Menschen zu definieren. Dabei machte man Anwendung von der Definitionstechnik, die der Philosoph Aristoteles ins Leben rief: „Gib zur Definition die Gattung an, zu der das, was du definieren willst, gehört, und nenne die spezifische Differenz zu anderen Arten dieser Gattung.“ Ein Pudel ist z. B. ein Hund (Gattung) mit lockigem Haar. Das gelockte Haar ist die spezifische Differenz der Hundert Pudel, die alle Exemplare von Pudel gemeinsam haben, und die eben nur und ausschließlich Pudel habe.
Erkenne, was für eine Art von Lebewesen du bist, dann kannst du ein naturgemäßes Leben führen.
Beispiele für die Definition von Menschen sind lehrreich: Der Mensch ist das Lebewesen, das tanzt. (Interessant, aber durch tanzende Vögel widerlegt). Der Mensch ist das Lebewesen, das lacht. (Wieder die Vögel, genauer: Krähenvögel.) Der Mensch ist das Lebewesen, das sich seine Nahrung selber anbaut. (bisher unwiederlegt). usw.
Die letzte Definition kommt übrigens aus der Tradition um Karl Marx. Für die Stoiker jedenfalls war nicht nur Aristoteles‘ Methode der Definition verbindlich, sondern auch seine zwei Antworten: „Der Mensch ist das vernunftbegabte Lebewesen.“ (griechisch: „zoon logon echon,“ lateinisch: „animal rationale“) und „Der Mensch ist das politische Lebewesen.“ („zoon politicon“, „animal politicum“).
Beide Definitionen geben die Natur des Menschen an – damit sind wir beim Punkt.
Die Weisheitslehre: „Lebe in Übereinstimmung mit der Art von Lebewesen, die du bist – mit deiner Natur.“ bedeutet das: Lebe als vernünftiges und politisches Lebewesen. Denn das ist es, was wir sind.
Die Weisheitslehre der Stoiker sagt dementsprechend auch so etwas wie: Lebe ein bewusstes Leben. Ein Leben leben, das bewusst ist, bedeutet zu wissen wie und worin man lebt:
Wir leben in diesem Universum – in keinem anderen. Wir leben so, wie es uns unsere Natur zulässt: Wir sind Stoffwechselwesen, die sich durch Paarung vermehren und für gewöhnlich in großen Gruppen leben. Zudem haben wir aufgrund unserer Natur endlose Handlungsmöglichkeiten; in keinen Lebensraum sind wir eingepasst. Allein die Rationalität hilft uns dabei, ein Leben zu führen.
Lebe in Übereinstimmung mit deiner Natur =
Lebe als vernünftiges und politisches Lebewesen =
Führe ein selbstgesteuertes und gemeinschaftsförderndes Leben
Vernunft zu haben, bedeutet immer auch sich selbst steuern zu können. Ein Leben zu leben, das ein vernunftgemäßes Leben ist, eines, welcher unserer Natur entspricht, bedeutet dann: Schaffe in dir eine Selbststeuerung.
Exkurs über die Steuerung von Affekten
Die stoische Lebensphilosophie kommt in ihren zentralen Gedanken – wir nahezu all antike Lebensphilosophie – auf die Kontrolle der Affekte zu sprechen.
In der Philosophie verstehen wir unter einem Affekt eine heftige seelische Erregung. Manchmal wird dies auch Leidenschaft genannt. Im Englischen nennt man sie treffend passions; wer mal Latein hatte, der liest hier passio (leiden, etwas erleiden). Affekte als Passionen anzusprechen ist treffend, weil hier ihre parasitäre Art angesprochen wird. In der Philosophie nennt man Leiden nämlich den Zustand der Passivität gegen etwas, welcher uns einschränkt. Wir leiden unter Affekten in dem Sinne, dass unser klares Denken in dem Moment abgestumpft und verdunkelt wird, wo wir uns im affektiven Zustand befinden. (Ein weiterer Fall von Missverständnis zwischen philosophischer Fachsprache und normaler Sprache; leiden bedeutet nicht Schmerzen haben.)
Auch psychische Leiden kann man so auffassen. An Affekten leiden bedeutet dann, dass man sich über die Affekte vergisst, dass die Affekte das Denken einschränken, dass der Affekt das Denken blockiert, hemmt oder ähnliches.
Verbreitete Affekte sind Ängste und Sorgen. Dazu gehören: Zukunftssorgen, Verlustängste, Todesangst, Angst vor Strafe und Vertreibung. An diesen Beispielen kann man gut studieren, was die antiken Lebensphilosophen meinten, wenn sie den Affekt als etwas ansehen, an dem unser Verstand leidet. Angst und Sorge blockieren vom Moment des Auftretens an das klare Denken und stören das innerliche Gleichgewicht. Sie beunruhigen den Menschen, weil sie bewirken, dass man nur in Angstphantasien lebt. In diesen Vorstellungssequenzen ragen vage Schatten des Ängstigenden über dem Gemüt. Das hemmt uns darin, Handlungsoptionen zu entwerfen. Ängste hemmen uns Menschen in unserer Entfaltung und verschließen den Weg zur Heiterkeit.
Zu den Affekten zählen nicht nur Sorge und Angst. Auch andere Gemütslagen und seelische Erregungen ziehen unser klares Denken typischerweise in den Bann ziehen und wirken sich so negativ auf unsere seelische Gesundheit auswirken. Zu den bekanntesten zählen übermäßiger Zorn, Bitterkeit, Groll, überwältigende Zustände von Furcht, heftige Liebe, Eifersucht, Sehsucht, Neid oder übersteigerte Freude.
Für die stoische Schule ist klar: Affekten darf man sich zum Wohle der seelischen Gesundheit nicht hingeben. Ausnahmen machten sie für Liebe und Hingabe. Denn es entspräche unserer Natur in Gruppen zu leben. Liebe und Hingabe sind für das Gruppenleben dienliche Affekte, denen wir uns getrost überlassen dürfen. Exkurs Ende. |
Die dritte Bedeutung erklärt
Lebe in Übereinstimmung mit deinem Temperament ist eine Erinnerung an die alte Weisheit: „Erkenne dich selbst.“
Mache dich vertraut mit deinem persönlichen Wesen.
In der antiken Welt unterschied man vier Typen von Temperament. Sie sind sehr schön in einer Geschichte erklärt, in der jeder von ihnen einen Spaziergang machen soll und auf seinem Weg einen großen Stein als Hindernis vorfindet. Der Sanguiniker springt lebhaft über den Stein hinweg und wandert munter weiter. Der Choleriker gerät in Wut und Zorn, weil er sich wieder einmal bei seinen Plänen gestört fühlt. Er schleudert den Stein beiseite und hat für längere Zeit seine gute Laune verloren. Der Melancholiker bleibt vor dem Stein stehen, und verfällt auf traurige Gedanken, die sich dahingehend verdichten, dass in seinem Leben noch niemals etwas reibungslos verlaufen ist. Er gibt sich der Trübsal hin und setzt sich bekümmert an den Rand des Weges. Der Phlegmatiker fand schon zu Hause das Aufstehen und Weggehen mühsam. Beim Anblick des Steines wird ihm alles zu viel. Er kehrt in seine Wohnung zurück, um sich wieder ins gemütliche Bett zu legen.
Auch heute unterscheiden wir Persönlichkeitszüge, die wir durch Geburt mitbringen. Das Standard-Modell der Psychologie ist die Big-Five-Persönlichkeitsskala. Sie unterscheidet fünf Dimensionen, die jeweils zwei Ausprägungen (stark und schwach) haben (siehe das schöne Schaubild, das die Redaktion von geo.de zum Thema in Auftrag gegeben hat; herzlichen Dank!).

Der lebenspraktische Rat der stoischen Philosophie lautet diesbezüglich: Mache Dich mit deinem Wesen vertraut. Denn dann weißt, du in welche Fallen du gerätst, was deine Schwachstellen sind, was deine Stärken sind, was du besonders gut kannst.
Der von mir sehr geschätzte Jordan Peterson hat eine online-Testversion des Persönlichkeitstests: Understandmyself. Es gibt sie nur auf Englisch. Es ist kostenpflichtig. Getestet wird deine Ausprägung auf der Big-Five-Skala. Zudem erhältst du zu deinem Ergebnis Rat darüber, welche Stärken Menschen mit deiner Persöslichkeitsausprägung typischerweise haben und in welche Gefahren und Fallen sie typischerweise geraten. – Die Ruhr Universität Bochum (RUB) und andere deutschsprachige Anbieter haben auch Portale zum Persönlichkeitstest; es gibt aber keine Ratschläge hinterher.
Chrysipp und die Stoiker der Antike jedenfalls wussten es auch: Erkenne dich selbst, erst dann kannst du dich beherrschen.
Zusammenfassung
In Übereinstimmung leben mit der Natur hat drei Bedeutungen. Eins: Ordne dich ein in das, was geschieht. Zwei: Lebe ein überlegtes, vernünftiges Leben und ein Leben, das die Gruppe, in der du lebst, nach vorne bringt. Drei: Erkenne deine Schwächen und Stärken.
Die Bedeutungen zwei und drei sind noch heute sinnvolle Entwürfe für eine ausgearbeitete Lebenskunst. Ein überlegtes Leben zu führen heißt eben auch: Kontrolle deine Affekte. Lass nicht zu, dass etwas anderes als deine Vernunft dich beherrscht.
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Anmerkungen:
** Quelle: Hans. von Arnim, Stoicorum veterum fragmenta, Bd. 2, 2. A., 1921, 975. Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 21d.
**** Das „Handbüchlein der stoischen Moral“ wird zitiert nach Zeno.org.

In diesem Beitrag möchte ich auf ein Lehrstück des Philosophen Platon zu sprechen kommen, das „Der Seelenwagen“ heißt. Um das einzuführen, beginne ich aber ganz woanders, und zwar beim Begründer der Psychoanalyse: Sigmund Freud. Bis auf ihre Genialität haben beide, Platon und Freud, nicht viel gemeinsam. Ihrer beiden Ausführungen über die seelischen Regungen und die Selbstkontrolle sind erstaunlich realistisch und ähneln sich aber. Wir werden von beiden lernen, was es heißt, sich zu kontrollieren.
Über die Gedanken Sigmund Freuds
Lehrbuchartig erhalten hat sich von Freud ein modellhafte Konzeption der seelischen Erregung, welche in ihren Grundzügen als Dreiteilung dargestellt wird:
Über-Ich | Ich | Es.
Dieses Modell verdeutlicht Instanzen, auf deren Wirken menschliches Verhalten zurückzuführen ist. Verhalten, das auf das Über-Ich zurückzuführen ist, ist ein solches, das auf die Einhaltung sozialer Normen (auf Konformität) bedacht ist. Das Über-Ich verkörpert das (verinnerlichte) Gewissen. Verhalten, das auf das Es zurückzuführen ist, das ist triebhaftes, unüberlegtes, impulsives Verhalten. Das Es verkörpert das Lustprinzip. Verhalten, das auf das Ich zurückzuführen ist, ist ein solches, für das es Gründe gibt, ein Verhalten, das begründet wird durch die Person. Das Ich verkörpert die Rationalität.
In uns, so Freud, gibt es tagein tagaus eine dynamische Anpassung zwischen diesen Instanzen: Wird die (anonyme) Stimme des Gewissens aktiv, so haben wir es mit der Auseinandersetzung von Über-Ich und Ich zu tun:
Über-Ich <-|-> Ich | Es
Freuds Idee ist, dass diese Art der seelischen Dynamik der Grund für neurotische Gefühle wie Angst oder Zweifel ist. Ein Beispiel: Ich begehre den Ehepartner meines besten Freundes. Ich fühle also erotische Gedanken (Es), aber diese Gedanken darf ich nicht haben („sagt“ das Über-Ich). Im Ich entsteht so ein Konflikt zwischen den Antrieben (Es) und den sozialen Normen (dem Über-Ich). Dieser Fall sollte allein der Veranschaulichung des Modells dienen. Mit solchen Dynamiken wollen wir uns aber nicht weiter beschäftigen.
Was ich mit Freud erklären will – um es dann auch bei Platon zu zeigen – ist die Dynamik des Kampfes zwischen Rationalität und Lustprinzip. Es ist Frühling. Viele Menschen streben nach einer Art von Diät, damit der Bauchspeck für das Sommer-Outfit verschwinde. Dieser bewusst gewählte Wunsch bzw. dieser bewusste Vorsatz gerät aber leicht in Konflikt mit der verbreiteten Lust auf Zucker – konkreter: Schokolade. Dieser Fall ist im Modell Freuds:
Über Ich | Ich <-|-> Es
Wir können diesen Schokoladenwunsch, der drängt, der das Bewusstsein belagert, verallgemeinern. Im ES als psychischer Instanz sind alle Arten des Begehrens und Drängens zu Hause. Nicht von ungefähr spricht man hier von Trieb, Impuls, Begierde, Lust. Diese Neigungen streben jeweils nach Kontrolle. Sie würden sich auch ohne Überlegung manifestieren. Das Ich und das Über-Ich sind psychische Instanzen der Hemmung und der Kanalisierung dieser Triebe. Das ES selbst ist wie ein brodelnder Vulkan, der unterhalb der bewussten Kontrolle durch das Ich kocht. Ab und zu stößt ein Lavaschwall zur Oberfläche.
Die populäre Philosophie zu Sigmund Freuds Lebenszeiten war ein Rationalismus. Die reine Rationalität sei imstande, alle seelischen Regungen zu kontrollieren. Das Ich ist frei und kann sich eigene Ziele setzen. Das Ich ist letztlich der Herr der Welt. Dazu benötige man Entbehrung, Kraftanstrengung und Wille. Sigmund Freud hat aber als Psychiater andere Erfahrungen gemacht. Er hat erblickt, dass das Ich mitunter von Affekten und Phantasien gestört wird; mitunter kann es sich sogar selbst auflösen. Das Ich ist nicht die alleinige bewegende Kraft in uns; menschliches Verhalten ist auch auf andere Kräfte bzw. die Kombination dieser seelischen Quellen zurückzuführen.
Seine Lehre von den multiplen Kräften im Menschen (Gewissen, Lustprinzip, Rationalität) hat letztlich eine neue Epoche der Sicht auf den Menschen eingeleitet. Epochemachend fasste Freud es zusammen:
„Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus.“
Sigmund Freud
Dieser Gedanke richtet sich einerseits gegen den populäre Rationalismus; unser Verhalten hat auch irrationale Quellen. Anderseits ist dieser Gedanke auch eine Kampfansage an die hohe Philosophie des Deutschen Idealismus, nach welcher der Geist des Staates und der Kultur vom endlichen Bewusstsein getragen wird.
Freud richtet sich gegen die rationalistische und idealistische Auffassung, dass das wache Bewusstsein (welches Ich sagt) in jeder Minute seines Lebens der Herr über den Leib und die Affekte ist. Träumen, sagt Freud, ist eine vom Ich unkontrollierte Tätigkeit eines Seelenteils, welcher im Schlafzustand des Leibes die Überhand nimmt. Ein anderes Gegenbeispiel ist der Mensch, dessen Leben durch das neurotische Gefühl der Schuld eingeschränkt wird. Hier nimmt das Gewissen die Überhand.
Über die Rede von der Seele
Das Ich (die Rationalität) ist ein Teil der Seele, ein Teil unter anderen. Selbstkontrolle ist die Steuerung durch das Ich. Übernehmen die übrigen Teile die Kontrolle über das Handeln, je auf ihre spezifische Weise, so erleben wir das als Einschränkung der Kontrolle oder gar als Fremdkontrolle. So sprechen wir davon, dass das Gewissen uns Grenzen setzt; dass das Über-Ich uns kontrolliert hören wir selten. Entsprechend reden wir davon, dass der Trieb Überhand genommen hat; er hat das klare Bewusstsein ausgeschaltet. Wir kommen darauf zurück.
Dem geneigten Leser ist sicherlich aufgefallen, dass die Rede von der Seele hier etwas arglos benutzt wird, so als ob wir es für ausgemacht hielten damit eine reelle Größe zu thematisieren. Als aufgeklärte und an den wissenschaftlichen Diskurs der Nachmoderne angeschlossene Menschen hören wir diese Dissonanz sofort. In der Psychologie wird die Rede vom Ich und von der Seele deshalb auch nicht mehr gepflegt. Man erklärt, das Fach beschäftige sich mit dem menschlichen Verhalten und Erleben, sowohl subjektiv als auch unter Personen, und zwar über die gesamte Lebenszeit hinweg. Ich und Seele sind Redeweisen, die von einer vor-wissenschaftlichen Beschäftigung mit psychologischen Prozessen herrühren.
Als Philosoph finde ich mich damit ab, dass der Fachbereich und das Wissensgebiet „Psychologie“ sich profiliert und absetzt gegen vermeintliche Missverständnisse. In der Philosophie ist es nicht anders gewesen. Auch hier setze ich die Rede von der Seele ab gegen konfessionelle (religiöse) Auffassungen davon, was das bedeutet. Es sind eben die Fortschritte in der Philosophie über die Jahrhunderte, die bewirkt haben, dass man dem Seelenglauben der Konfessionen mit Ablehnung begegnet.
Wenn ich aber philosophiere, dann rede ich wie selbstverständlich von der Seele. Ich meine damit ein Chiffre **, das ist ein Wort, das hinweist auf etwas für unsere Existenz entscheidendes. Der Platz des Seelischen in der Welt ist die unabstreitbare Selbstbewegung beseelter Körper und das subjektive Erleben (von sowohl innerlichen als auch äußerlichen Signalen) in der Perspektive der ersten Person. Die Seele lebt weiter, wenn ich schlafe. Das Ich ist in die Seele eingegliedert – als Software, so wie eine eine Aufmerksamkeit-App, die bewirkt, dass alle perzeptiven Informationen auf eine zentrale Instanz hin (Ich) angeordnet erfahren werden (Prinzip der Einheit unserer Erfahrung). Die Seele ist das Sammelwort für die Belebtheit und die Bewusstheit, für das Selbstgefühl und das Innenleben. Seele umfasst Kognition (Gedanken, cognitio), Emotion (Gefühle, emotio), Volition (Handlungsimpulse, Wille, volitio), Begehren (Trieb, Lust, libido), Vorstellung (Einbildung, Repräsentation, Imaginatio) und Erinnerung (mnemosyne).
Als Philosoph werde ich der Seele nicht die Realität absprechen. Ich habe auch keine Furcht vor der Meinung anderer, die mich der Irrationalität bezichtigen werden, weil ich ich ein Wort aus vorgegangener Zeit gebrauche. Ich vertrete damit überhaupt keine Theorie oder eine Religion. Ich mache mir nur deutlich, dass ein einzelner, beliebiger Mensch in Bezug auf seine Innerlichkeit allen anderen Menschen strukturell ähnlich ist. Es gibt ja nicht ein Ich und Milliarden andere Du. Wir sind alle ein Ich. So wie der Vollmond sich in tausend Wassern spiegelt, so ist eine Seele in allen von uns. Wir alle haben je für uns selbst Empfindungen, aber das Empfindung-Haben ist allen gleich. Wir alle haben je für uns Vorstellungen, aber die Vorstellungsfähigkeit ist allen gemeinsam. Und so für alle andere seelisch-geistigen Vermögen. Wir sind alle von einer Art.
Antikes Verständnis von Seele (Psyche)
Um nachzuvollziehen, was der Philosoph Platon unter der Seele (Psyche) versteht, möchte ich das antike Verständnis in Erinnerung bringen. Seele ist das Prinzip der Eigen- oder Selbstbewegung. Alles in der Welt ist in Bewegung – so beobachteten „die alten Griechen.“ Einige Dinge bewegen sich von selbst, andere werden von anderen Dingen bewegt. Die, die sich nur bewegen, wenn sie angestoßen werden, finden irgendwann einen Ort der Ruhe. Dinge, die sich selbst bewegen, sind beseelte Dinge.
Seele wird nicht weiter erklärt als etwas unstoffliches, als warmer Hauch oder Lebenskraft. Als beseelt gilt, was lebt. Pflanzen, Tiere, Menschen sind daher beseelt. In den Pflanzen ist es das Wachstum, in den Tieren die Bewegung von Ort zu Ort. Menschen haben eine spezielle Seele, eine solche, die pflanzliches und tierisches mit dem spezifisch menschlichen – dem Verständigen in uns – vereint.
Warum setzten sich Tiere in Bewegung? Was bewirkt, dass ein Tier seine Knochen, Sehnen und Muskeln so einsetzt, um von Ort A nach Ort B zu kommen? Warum läuft das Huhn über die Straße? – Das Huhn läuft über die Straße, weil es denkt, es sei eine gute Idee. Schon Hühner haben so etwas wir Phantasie, Vorstellungskraft – es ’sieht‘ auf der anderen Straßenseite einen Anreiß, deshalb läuft es los. Das ist das Seelische im Huhn.
Wir erfahren wir Menschen Seelisches? Wir erfahren es 1.) als die Grundstimmung in der wir uns befinden. Von gereizt bis ausgelassen, von depressiv bis manisch; Grundstimmungen sind der emotive Grundbass unserer Existenz. 2.) Seelisches ist der innere Antrieb, den wir verspüren. Es ist die Vitalität, die uns Pläne angehen lässt, der Eifer, den wir verspüren, das Aktivitätslevel. Es ist hier auch zu nennen: das Begehren nach Nahrung, die Geilheit, die Lust, die Triebe. 3.) Seelisches Erfahren wir als Lebenskraft; als die Gesundheit, die den ganzen Leib durchströmt. 4.) Wir erfahren Seelisches als die Gemütslage, die wir haben. Das ist ganz stark schon im Aspekt 1 enthalten. Die Grundstimmung kann sich über Monate ausdehnen. Die Gemütslage ist zeitlich noch stärker ausgedehnt. Langmütig, Frohmütig, Langmütig sind Gemütszustände, die in den Charakter eines Menschen eingegangen sind. 5.) Wir erfahren Seelisches, als das, was lebt, auch wenn wir schlafen.
Das platonische Gleichnis vom Seelenwagen
Platon verdeutlicht die Struktur der Seele – Die Antriebskräfte und die Zentralsteuerung – in Form eines Gleichnisses.**** Man muss wissen, dass Platon ein Schriftsteller-Philosoph ist, dessen Genialität durch seine Textkomposition, Metaphorik und Wortwahl durchscheint. Die Seele des Menschen, sagt er, gleich einem Gespann mit zwei Rössern. Das eine Ross ist das Pferd des Eifers (griechisch: thymoeides), das andere das Pferd der Begierde (griechisch: epithymetikon). Gelenkt wird das Gespann von der Vernunft (griechisch: logistikon).
| Exkurs: Im Internet hat es sich ergeben, dass man stets diese Zeichnung zeigt, welche dem DTV-Atlas Philosophie entnommen ist.

Die Zeichnung ist noch begleitet von einer falschen Benennung der Pferde. Es heißt im DTV-Atlas, dass das eine Ross das Pferd des Mutes sei. Das ist aber irreführend, weil nicht der Mut als Tugend, sondern das Gemüt als Seelenteil gemeint ist. Exkurs ENDE |
In meinem Platon-Video, das ich für Schüler gemacht habe, spreche ich ab Minute 18:05 von diesem Gleichnis. Die beiden Rösser vertreten zwei Arten von Impulsen. Der Impuls des Eifers macht uns mitunter rasend, wir streiten dann für die gute Sache, unsere Seele brennt dann für eine Sache. Der Impuls des Begehrens macht uns strebend, wir wollen dann leidenschaftlich. Die beiden Impulsarten – das ist die weitere Idee – schränken unser klares Denken ein. Der Eifer versetzt uns in überwertiges Denken, eine Idee setzt sich in den Vordergrund unseres Denkens. Die Begierde lässt uns alles Maß vergessen. Der Lenker ist die Rationalität, die Klugheit, die Vernunft. Sie kann die Pferde zügeln und überblickt die Strecke, die der Wagen fährt. Es ist klug, Begierde und Eifer für sich so arbeiten zu lassen, dass sie uns unsere Ziele erreichen lassen. Unklug ist die Zügellosigkeit.
Ich persönlich schätze dieses Gleichnis wie kein anderes. Das liegt vielleicht daran, dass ich Eifer und Begierde in mir gut auseinander halten kann und weiß, was passiert, wenn ich ihnen zügellose Kontrolle über die Wegstrecke erlaube. Ich erfahre aber immer wieder, dass andere dieses Gleichnis schwergängig auffassen.
Platon erklärt hier die Selbstbewegung der Seele. Die beiden Antriebe in uns, sagt er, sind grundsätzlich Eifer und Begierde. In moderner Sprache gesprochen: Störungen des Antriebs hat der, dessen Begierden und dessen Eifer krank sind. Die Vernunft, welche zwar ein Seelenteil ist, kann aus sich heraus keine Antriebe setzen.
Zur Begierde. Ähnlich formuliert finden wir diesen Gedanken bei David Humes berühmten Aphorismus: „Der Wunsch ist Vater des Gedankens.“ Soll heißen: Erst kommt die Begierde nach Essen (Hunger), dann kommt der Plan, essen zu beschaffen (Rationalität). Die Begierden machen uns strebend, sie machen uns aktiv, sie machen, dass wir in die Welt gehen. Wenn wir begehren, wollen wir die Sachen in der Welt verzehren. Das Objekt der Begierde lässt uns es nachjagen, es lockt uns. Unser Denken ist dann auf das Objekt fixiert. Die Begierde beherrscht uns ganz, unser Denken, unser Überlegen und Planen. Das gilt für die Begierde des Hungers ebenso wie für die Begierde der Geilheit. Platon spricht hier von Impulsen und warnt davor, dass wir die Kontrolle verlieren. In moderner Sprache: Impulskontrollstörungen sind Krankheiten der Seele.
Zum Eifer. Auch der Eifer ist ein Antrieb in uns. Eifer – dieses Wort kennen viele nicht. Sich ereifern für etwas – das kennt man noch. Im Eifer des Gefechts – das ist eine Redensart. Und tatsächlich meint Platon jene gesegnete Wut, die uns rasend macht. Er meint den Aggressionstrieb in uns, den wir haben, wenn wir uns für etwas einsetzen. Man männlichen Politikern währ hat männlichen Politiker, die auf einer Bühne stehen und sich ein wichtiges Wortgefecht liefern, Messgeräte an die Haut geklebt, um ihre Muskelspannung zu messen. Während des Gefechts waren die Muskelgruppen aktiv, die sonst zum starken Schlag ausholen. Die Kultur und die Zivilität der Politiker macht, dass sie sich nicht schlagen; unser Eifer aber aktiviert trotzdem die Muskeln, die wir bräuchten. Platon meint auch das Gefühl des Soldaten im Feld, der sich hergibt für den Kampf. Er meint mit Eifer zudem jenes Zürnen über die Welt, die wir im Kampf der Gerechten für eine bessere Welt beobachten. Den Eifer der politischen Aktivisten, die man bei den Social Justice Worrier, oder den Black Live Matter, oder den Me Too-Aktivisten sehen kann, sind die besten Beispiele.
Platons Genialität zeigt sich auch darin, dass er mit dieser leicht einprägsamen Analyse der Seele gleichzeitig zwei Lebensklugheiten verbindet. Zum einen: Nutze deine Antriebe. Zum anderen: Halte deine Antriebe im Zaum.
Halte deine Antriebe im Zaum. Die Klugheit, die Platon anführt betrifft die Grenze, welche man nicht überschreiten sollte. Begierde und Eifer müssen genutzt werden, sonst verkümmern sie. Bloß bedenken sollte man dabei die Gefahren. Die Gefahren der Begierde liegen im Übermaß. Zu viel Essen (Esssucht) ist ungesund, zu viel Sex ermattet. Die Lust will dann stets gesteigert werden. Das Lustprinzip in uns fordert stets mehr. Die Gefahren des Eifers bestehen in der Überwertigkeit. Das Eifern lässt uns unsere Pflichten vergessen. Wir werden über den Eifer ungerecht.
Nutze deine Antriebe. Bedenke, Eifer und Begierde sind deine einzigen Antriebe. Lässt du sie verkümmern, dann führst du vielleicht eine rationale, aber keine vollkommene Existenz.
Seinen Eifer kultiviert man mit Wertschätzung. Seine Begierden kultiviert man mit maßvollem Genuss.
Steuerung durch Balance
Die Selbstkultivierung der Antriebskräfte Eifer und Begierde ist ein bedeutendes Thema der Tugendethik. Selbstteuerung gelingt durch den überlegten Einsatz des Eifers und den überlegten Genuss der Sinne und der klugen Auswahl unter den Trieben und Impulsen. Platon ist ein Philosoph der Harmonie. So wie der Kosmos in einer Harmonie steht, sollte auch die Seele ihre Teile in eine Harmonie bringen. Charakterbildung, so wie wir sie verstehen, ist die Herstellung von Balance zwischen Eifer, Begierde und Vernunft.
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Anmerkungen:
** Das Wort „Chiffre“ benutze ich hier im Sinne von Karl Jaspers.
**** Gemeint ist die Stelle in Platons Phaidros (253c ff.). In der Poiteia beschreibt Platon die Drei-Struktur der Seele mit einem anderen Gleichnis, und zwar dem Gleichnis des Seelentieres. Siehe dazu online: Hans G. Müsse, Platons Seelenlehre.
Über den Wert der Selbstkontrolle

Zur Erinnerung: Der Philosoph Epiktet möchte uns mit der Übung der Dichotomie der Kontrolle einprägen, dass wir an unsere Meinungen, Wertschätzungen, das Handeln-Wollen, unsere Impulse, unser Begehren und Herbei-Wünschen und unser Vermeiden prinzipiell unter Kontrolle haben. In Kontrast steht dies zur Unverfügbakeit der Prozesse und der Ereignisse, die sich selbst-organisierend über unseren Kopf hinweg in der Welt vollziehen. Unerschütterlich ist jemand, der dieses Vollziehen anerkennt ohne darin eingreifen zu wollen. Mutig ist der, der in sich selbst einen Wandel herbeiführt. Weise wird, wer das eine vom anderen unterscheiden kann. (Die letzten Beiträge im Blog handelten hiervon.)
Kontrolle über uns. Das ist es, was ein gebildeter Mensch erzielen muss. Zur Erinnerung: Bildung heißt hier nicht Bücherwissen, nicht Kompetenzen für den Arbeitsmarkt, sondern: Aus dem Grundstoff seiner Natur etwas geformt haben, mittels Streben, Anstrengung, Übung. So wie man aus Ton ein Gefäß bildet, so bildet sich der Mensch aus.
Kontrolle über sich haben, das war über sehr lange Zeit ein Wert an sich. Studieren wir die antiken Lebensphilosophien und die Techniken der Seelenführung, die diesen antike Techniken im christlichen Abendland aufgenommen und bewahrt haben, so sehen wir das Ziel der Übung im Ersteben eines Gemütszustands. Dieser Gemütszustand wird als Gemütsruhe (Plutarch), Gelassenheit, Unerschütterlichkeit, Gleichmut (tranquilitas, Seneca) oder griechisch: Ataraxie, Galene/Meeresruhe (Epikur) bezeichnet. Dieser Zustand ist aber immer die Folge von Übungen in Selbstkontrolle. Ich meine: Wir verstehen die alten Weisheitslehren besser, wenn wir bei der Selbstkontrolle ansetzen.
Im letzten Beitrag (vom 17.5.) habe ich die Beobachtung Sloterdijks wiederholt, dass Selbstkontrolle heutzutage von Außenkontrolle übernommen wird. Anstatt selbsttätig an den Schlaf zu denken – Schlaff-Apps, anstatt ins sich Ruhe einkehren zu lassen – Entspannungs-Audio, anstatt über die Zubereitung von Speisen zu sinnen – Fertiggerichte aller Art, von Außen – aus dem Kalender, dem Smartphone, dem Computer, von den Autoritäten, vom Markt diktiert, von der Politik beschlossen usf. – von Außen lassen wir uns steuern. Sloterdijk geht soweit, dass er sagt (sinngemäß): ‚Warum reden wir heute nicht mehr über Tugend? Weil man den Menschen Tugend nicht mehr zutraut. In moralischen Sachen reden alle nur noch über Werte. Etwa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Werte haben die Tugenden ersetzt.‘ Nun sind Werte aber auch ein Äußeres, Tugenden indes sind verinnerlichte Werte. Traut man den Menschen keine Tugenden zu, dann werden die Werte, denen zu folgen ist, beliebig.
Eigensteuerung bedarf eines Zentrums, einer starken Persönlichkeit. Im Anschluss an den Arzt und Schriftsteller Joachim Bauer verstehe ich unter Selbststeuerung ‚das im Dienste umfassender Selbstfürsorge stehende Bemühen um eine Balance zwischen Selbstkontrolle und angemessener Berücksichtigung der Triebwünsche‘ [Joachim Bauer, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, Blessing-Verlag, 3. Aufl., 2015.] Sich selbst steuern können ist Teil der Selbstfürsorge deshalb, weil dies unserem Lebensglück und unserer seelischen Gesundheit dienlich ist. Es einzuüben lässt entdecken, dass wir selbst einen Wandel herbeiführen können, es lässt uns Verantwortung für uns zurückgewinnen und schafft einen gesunden Blick auf die Zukunft (kein schlechtes Zukunftsdenken mehr!).
Im nächsten Beitrag werde ich die Selbstkontrolle vertiefen. Ich möchte zusammenfassen, dass diese Fähigkeit im Zentrum aller Charakterbildung steht. Jede Tugendethik, welche den Prozess der Ausbildung, die Übung und die Hemmungen auf dem Weg zur Tugend thematisiert, wird mit der Selbststeuerung konfrontiert. Das Philosophieren darüber führt uns auf unsere ganz eigene Existenz zurück und lässt uns erahnen, wozu wir fähig sind.

Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich meine, eines der besten Sachen, die ein Mensch im Leben machen kann, ist, seinen Charakter selbst zu bilden. Dafür muss er sich anstrengen, am Ball bleiben und Tugend anstreben. Tugend kann man aber nicht als Individualist anstreben; sie macht dich nicht einzigartig. Die Tugenden werden geehrt in Büchern, sie sind wegen ihres Werts eingegangen in Moralkodizes, sie waren Fundamente der Moralerziehung. Mit anderen Worten: Tugenden sind traditionell. Sie gelten in bestimmten Kreisen deshalb wenig. Der Erwerb von Tugend wird allzuschnell mit Züchtigung, Abtötung, Selbstzerknirschung, Rigorismus assoziiert. Schon der Klang des Wortes löst Irritation aus. Oft stoße ich deshalb auf verschlossene Türen, wenn ich für den Wert von Tugendentwicklung einstehe.
ÜBER DIE ABSCHÄTZIGKEIT
Es ist eigenartig, denn schließlich blickt die Tugendethik auf 2500 Jahre Tradition zurück. Sie gehört zur Erbmasse der Ethik; sie verstaubt aber zusehends. Dass sie gerechtfertigterweise mit einem Schlage – vom Blick der Menschheitsgeschichte aus betrachtet – aus dem Bereich der sinnvollen und effektiven Kulturtechniken verbannt sein sollte, erscheint mir aber ausgeschlossen.
Man muss sich aber dem Sachverhalt stellen, dass Tugendethik unzeitgemäß ist. Sie passt nicht in die stark verbreitete Kultur des Genießens, der Erlaubnis und des Eigensinns. Im Beitrag vom 3. Mai („Tugend traut man den Menschen nicht mehr zu“) wurde dieser Umstand vertieft mit Sloterdijks Beobachtung, dass der Trend in unserer Kultur zur Außensteuerung geht. Tugendethik ist aber – von Sokrates an – eine Technik der Selbstkontrolle, eine Selbststeuerung. Warum dieser Epochenwechsel von Innensteuerung zu Außensteuerung? Warum diese stillschweigende Übereinkunft unter den Menschen, dass Tugend schlecht sei? Woher der Trend in den Agenturen (Schulen, Familien, Fernsehen, Pop-Kultur-Industrie), die sich ermächtigen, die kulturelle und sittliche Interpretionshoheit zu nehmen? Sind die Pädagogen dran Schuld? Ist es ein Ausfluss des prole-drifts (der Proleten-Werdung)?
Ich meine, die Abtretung dieses Erbes, die starke Abneigung gegen diese Tradition hat etwas mit der kulturgeschichtlichen Prägung zu tun, die sich in den letzten 70 Jahren abgespielt hat. Irgendwo in diesem Zeitraum wird die Antwort liegen. Ich will aber nicht gleich alles auf die 1968er schieben. Schon davor hat der Wandel stattgefunden. Und so gewichtig, wie es die noch Lebenden 68er es gerne verkaufen, waren die Ereignisse nicht. Es hat auch etwas damit zu tun, dass die säkulare Massenkultur aus den USA nach der Befreiung weite Teile der Kulturdeutungsmaschine übernahm: Publikationen, Rundfunk, Lehrstühle, Pop-Kultur. Man darf nicht vergessen, dass die Pop-Kultur aus den USA (welche dort selbst nicht die einzige ist), sich aus der kontinentalen Kultur entwickelte. Durch diese Verwandtschaft könnte es bewirkt worden sein, dass ein drastischer Wechsel in der deutschen und mitteleuropäischen Kultur bewirkt wurde. Das alles ist nur öffentliche Mutmaßung, sozusagen Spekulieren vor Publikum. Jedenfalls ist es Fakt, dass der Argwohn gegen die Tugendethik existiert. Probieren Sie es selbst: Reden Sie mit Bekannten und Fremden über Tugend und beobachten Sie die Reaktion. Und arbeiten Sie mit an der Beantwortung der Frage!
ÜBER DEN WERT
Die Philosophie der Tugendethik – jedenfalls die der Stoiker – kann man etwa so zusammenfassen: Kultiviert man diese Selbststeuerung, dann gewinnt man Kontrolle über seine Affekte. -> Die Kontrolle über die Affekte bringt Gelassenheit. -> Gelassenheit bringt Entscheidungsfähigkeit und Selbstmächtigkeit. -> Entscheidungsfähige und Selbstmächtige Menschen stehen mit beiden Beinen auf der Erde.
Für die antiken Tugendethiken stand nicht das Gute Benehmen als Endziel ihrer Tugendlehre (ich greife hier ein Vorurteil auf), sondern das Gute Leben. Sie entwickelten dazu Techniken der Lebenskunst und der Charakterbildung, welche möglichst situationsinvariant waren, d. h. möglichst auf jede Situation im Leben passen. Selbstkontrolle als Zentralthema der Tugendethik ist in diesem Sinne eine wünschenswerte Eigenschaft; verwirklichen wir sie in unserem Charakter, dann sind wir für jeden Weg im Leben gewappnet.
Diese Philosophie teile ich. Das macht mich zwar unzeitgemäß. Aber ich weiß aus den alten Bücher, dass Menschen sich mit ihren Urteilen über die Zeitgemäßheit irren, weshalb ich mir darum keine Sorgen mache.

Cusanus, ein katholischer Renaissance-Philosoph, beschreibt in seinem Dialog „Der Laie über den Geist“ den Philosophen, welcher einer der Hauptfiguren in diesem Text sind, dass er ‚festen Schrittes‘ geht und dennoch nicht träge wirkt. Diese Kleinigkeit im Gebaren meine ich macht schon einen Unterschied. So ähnlich wie man an der brechenden Stimme Nervosität erkennt oder am Zittern die Aufgeregtheit, so erkennt man den Gemütszustand einer Person am Gang. Jemand der festen Schrittes geht, der steht mit beiden Beinen ganz in der Welt, der weiß um die Erdschwere der Wirklichkeit, der ist sich auch der Größe des Kosmos gewahr. Wer festen Schrittes voran geht, der ist achtsam. Er hat seinen Gang in Kontrolle, weil er sich selbst unter Kontrolle hat. Womöglich steht er hinter dem, was er denkt.
Ferner meine ich, dass Menschen, die festen Schrittes auftreten, sich über ihre Verbundenheit mit dem Kosmos eins wissen. Da sie ihren Leib offenbar kontrollieren können, kennen sie ihn, und damit auch die Endlichkeit seiner Kräfte. Sie kennen ebenso die Härte der Welt, an die sie durch den festen Bodenkontakt erinnert werden.
Der letzte Beitrag endete mit den Worten, dass wir an uns selbst arbeiten sollen, damit wir mit beiden Beinen in der Welt stehen. Was bedeutet das? Was macht die Selbstsicherheit eines Menschen aus, der nach stoischer Manier schreitet?
Epiktet lehrt uns, dass wir das, was aus uns entsteht, in Bahnen bringen können: Persönliche Geschmacksurteile können abgeändert werden; Handlungsimpulse können gesteuert werden; das Besitzstreben kann gelenkt und gezügelt werden; und Vermeidungsverhalten kann aufgelöst werden. Charakterbildung findet hier statt. Indem wir unsere Geschmacksurteile (Meinungen), Handlungsimpulse (unser Trachten), Besitzstreben (Habsucht) und unser Vermeidungsverhalten (Bequemlichkeit) eine Bahn geben, erwerben wir Kontrolle darüber. Aus fortwährender Kontrolle entsteht eine Gewohnheit, aus der Gewohnheit ein Charakterzug.
An anderer Stelle des Blogs (in den Eintragungen am 2. Mai und 3. Mai 2021) habe ich Tugend und Charakter auf dieselbe Weise erklärt. Tugend ist der feste Vorsatz, der zur Charaktereigenschaft geworden ist. Damit ein Vorsatz gesetzt wird, muss aus eigener Wahl eine persönliches Ziel (die Tugend, die man erwerben möchte) anvisiert werden. Dieses Ziel kann von nun an anvisiert werden im täglichen Entscheiden und Auswählen.
Eines der hohen Ziele, die ein Stoiker verfolgt, ist es, die Kontrolle über seine seelischen Erregungen (Affekte) zu haben. „Affekt“ als philosophisches Fachwort bezeichnet seelische Erregungen und Gemütslagen wie Sorge und Angst, aber auch Zorn, Bitterkeit, Groll, überwältigende Zustände von Furcht, heftige Liebe, Eifersucht, Sehsucht, Neid oder übersteigerte Freude. Affekt bedeutet wörtlich so etwas wie „von etwas angerührt werden, betroffen werden sein von etwas“. Dahinter steckt eindeutig die Entdeckung, dass der Affekt aus einem Teil unseres Wesen entsteht, der nicht das denkende Bewusstsein ist. Affekte scheinen aus dem dunklen Grund der Seele aufzusteigen. Was sie dann typischerweise bewirken ist: Sie hemmen uns und sie schränken das klare, gesunde Denken ein. Diese Hemmung des Bewusstseins durch Affekte – das erkennen die Stoiker als ein großes Übel an. Sie empfehlen, dass man gegen dieses Übel vorgeht, indem man das Aufsteigen der Affekte kontrolliert, um so das klare Denken zu bewahren. Das Stichwort, welches in diesem Zusammenhang zu nennen ist, ist die sprichwörtliche Stoische Ruhe.
Die Ruhe des Gemüts, das die Stoiker empfehlen ist ein konstanter Zustand der Affektlosigkeit, der auch nicht durch plötzliche Ereignisse gestört wird. Es geht darum, sich von seinen Affekten zu distanzieren, sie zu betrachten und anzuerkennen lernen, aber Abstand davon zu halten, sich an sie zu verlieren. Die Stoiker wissen, das Aufsteigen des Affektes ist nicht zu verhindern – das ist eine ganz und gar natürliche Sache: Naturgesetzlich entstehen in uns (Säugetieren) affektive Reaktionen auf äußerliche Ereignisse oder auf innerliche Vorstellungsbilder. Die stoische Einübung der Ruhe beginnt in dem Moment, wo der Affekt aufsteigt. Wenn er aufsteigt, dann können wir sagen: „Hallo Zorn!“ oder „Ich werde zornig.“ – falls uns das gelingt, haben wir schon fast gewonnen. Denn der größte Feind der Affekte das selbstkontrollierte Betrachten. Affekte gewinnen nur dann Besitz an unserem Denken, wenn wir uns in sie hineinfallen lassen. Beobachten wir sie aber mit dem klaren Verstand, dann sinken sie wieder ab dahin wo sie hingekommen sind und ihre Intensität lässt nach.
Seit jeher wird sich eine Geschichte erzählt, die sich auf offener See zugespielt haben soll. Das Schiff ist mitsamt seines berühmten Passagiers, eines ehrenwerten stoischen Lehrers, in den heftigsten Sturm des Jahres geraten. Alle Insassen erlebten Stunden der Angst, mehrmals drohte der Kahn zu kentern. Nachdem – Zeus sei’s gedankt – die Flaute kam und sich die Lage beruhigte, trat der Kapitän an den Stoiker heran. „Ich wundere mich,“ sagte er, „Sie sind so leichenblass wie alle anderen und ich habe Sie schlottern sehen.“ – „Ja.“, bestätigte der Stoiker. „Und doch sind sie ein stoischer Lehrer. Ich dachte, sie erleben keine Angst.“ „Das ist richtig, ich verpflichte mich der stoischen Lehre. Diese besagt, dass es natürliche Affekte gibt, deren Entstehen wir nicht verhindern können. Das einzige, was in unserer Kontrolle liegt, ist es, diese Affekte nicht Oberhand gewinnen zu lassen.“
Durch die Jahrhunderte ist die Ruhe des Gemüts, welche als eine stoische Großtugend gilt, verschiedentlich benannt worden. So heißt mal „Unerschütterlichkeit,“ oder „Unerschrockenheit“ oder „Affektlosigkeit.“ Einen einprägsamen Namen hat der römische Philosoph Seneca gefunden: Er nennt sie Gleichmut oder Gleichgewicht der Seele (tranquilitas Anima). Auch englisch und italienisch hat sie den Namen „serenity“ bzw. „serenita.“ Das deutsche Wort – Gelassenheit – passt nicht ganz. [Mit Kollegen Becker habe ich in der Podcast-Folge darüber geredet: https://www.youtube.com/watch?v=7vwAytU7ACg.] Dazu werde ich in einem separaten Beitrag schreiben.
Gemütsruhe ist die Art mit beiden Beinen in der Welt zu stehen, die die Stoiker am meisten achten. Gemütsruhe ist der Charakterzug, der im Stoizismus am meisten dem Ideal eines weisen Menschen (in chauvinistischer Vorzeit: dem weisen Mann) entsprach und ihm anstand. Festen Schrittes zu schreiten, kontrolliert zu sein, dafür muss man das seelische Gleichgewicht halten, die Affekte beobachten lernen und einen Umgang damit einüben. Charakterbildung ist so ein Umgehen-Lernen mit den Affekten. Selbstkontrolle ist auch Affektkontrolle.
Über das, worüber wir Kontrolle haben

Epiktets Dichotomie der Kontrolle will gelebt werden. In vorherigen Beiträgen des Blogs wurde herausgestellt, dass sich das Einüben dieser Einsicht in zwei Pfade teilt: Der erste Pfad führt auf das Feld des Unverfügbaren hin. Der zweite lässt die Begegnung mit dem Verfügbaren zu. Was ist verfügbar? Im Handbüchlein** heißt es:
In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist.
Epiktet, Handbüchlein der Stoischen Moral, I.
Der geneigte Leser mache sich klar, dass der schnelle Blick auf das knapp 2000jährige Textzeugnis leider nicht genügt, um den Sinn aufzufassen. Die Sprache der Übersetzung, die deutschen Wörter sind ja selbst noch erläuterungsbedürftig. Deshalb soll es der Reihe nach gehen.
1. Behauptung: Unsere Meinung ist unser Werk, sie ist in unserer Gewalt. In einem anderen Beitrag wurde bereits die Entklammerung von Meinung und Realität als Übung erläutert. Mit Meinung bezeichnet Epiktet den mentalen Zugriff auf die Realität. Eine Meinung ist ein Annehmen und Auffassen. Wir sagen dann: Ich glaube dies oder das, oder ich halte dies oder das für richtig oder falsch. – Überzeugte Skeptiker geben ein gutes Beispiel für Menschen, die gelernt haben, ihre Meinungen zu kontrollieren. Die Grundhaltung des Skeptikers ist zunächst: Enthaltung. Ich enthalte mich der Meinung bedeutet so viel wie: ich könnte zwar losschießen und allerlei persönliche Ansichten, Annahmen und Wertschätzungen über dies oder das aussprechen, aber ich unterstehe mich. Diese Hemmung dagegen, sofort eine Meinung abzugeben, das Sich-Zurückhalten, hierin sind wir frei. „Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben.“ und „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ nennen als Redewendungen dieses willentliche Zurückhalten.
2. Behauptung: Unser Trieb ist unser Werk, er ist in unserer Gewalt. Der geneigte Lese möge das Wort „Trieb“ hier nicht wörtlich nehmen. Ein Trieb wie der Überlebenstrieb oder der Geschlechtstrieb sind gewaltige blinde Kräfte, die Ausbrechen können wie ein Vulkan; auch sie können kontrolliert werden. Aber: Das ist nicht das, was Epiktet meint. Erstens, Epiktet kennt natürlich nicht die Psychoanalyse. Sigmund Freuds Werk hat das Wort „Trieb“ unserer Sprache wesentlich beeinflusst.
Epiktet meint ein treibendes Moment im gedanklichen Zugriff, der Antrieb der mit dem Denken verbunden ist, den Impuls. Andere Übersetzungen derselben Stelle sprechen von „Antrieb zum Handeln“ [Übersetzung Steimann, Reclam-Verlag] oder „Handeln Wollen“ [Übersetzung Rainer Nickel, Tusculum-Verlag]. In der Literatur erklärt der Experte Maximilian Forschner: „Wird etwas als für mich erstrebenswert beurteilt, so ist diese Urteil von einem Handlungsimpuls begleitet.“ [M. Forschner, Die Stoische Ethik, Stuttgart 1981, S. 116.].
Gemeint ist der natürliche Zusammenhang zwischen Gut-Finden und Greifen. Ich erkläre meinen Schülern gerne, dass das unser Säugetier-Erbe ist. Wenn wir etwas Süßes sehen, greifen wir gerne zu; Süßes erkennen wir als gut; das Gute müssen wir verzehren. Einüben kann man die Kontrolle dieses Impulses vor der Süßigkeitenschale. Man geht vorüber und spürt den Impuls aufkommen, dann hält man es für einen Moment aus und sagt sich: „Nachher gibt es Essen, ich würde mir den Appetit verderben.“ oder „Ich muss auf mein Gewicht acht geben.“
Impulskontrolle und Selbststeuerung werden hier am augenfälligsten.
3. Behauptung: Unser Begehren ist unser Werk, es ist in unserer Gewalt. Jeder kennt es: Das, was einmal begehrt wurde, verliert seinen Wert. Ich persönlich habe zu viele Sakkos im Schrank hängen. Alle habe ich zu einer Zeit begehrt. Begehren ist Haben-Wollen, Herbeiwünschen, Besitzen-Wollen. Die Mäßigung des Begehrens, die man in jeder Weisheitslehre erwähnt findet, wird bei Epiktet ergänzt um den Hinweis: Du kannst dein Begehren zügeln, dämpfen, herunterfahren und aussetzen. Das Handbüchlein Epiktets wurde über Jahrhunderte in Mönchskreisen als Übungsbuch benutzt: Besitzlosigkeit als Ideal übt sich natürlich im Aussetzen oder Drosseln der Wünsche. Diese Haltung sich selbst gegenüber ist frei. Prüfen Sie es!
4. Behauptung: Unser Widerwille ist unser Werk, er ist in unserer Gewalt. Gemeint ist hier die Vermeidung von Unlust, Schmach und Ungemach. Im normalen Gang der Dinge werden wir in unseren Alltagsentscheidungen vom Lustprinzip gegängelt, unsere Neigung ist es, der Bequemlichkeit zu frönen und den leichten Weg zu suchen. Daher Meiden wir starke Anstrengungen, vermeintliche Lasten und Pflichten. Dieser Widerwille gegen dies oder das, das ist hier gemeint. Ich persönlich ziehe – als Beispiel unter vielen anderen – das Fensterputzen immer weit hinaus. Aber auch hier gilt: Unser Meiden, unserer widerwilliges Verhalten ist ganz und gar in unserer Hand.
Zusammenfassend lehrt uns Epiktet also: Persönliche Ansichten, Handlungsimpulse, Besitzstreben und Vermeidungsverhalten sind in unserer Kontrolle. Bedenkt man weiter, dass in Bezug auf alles in der Welt die Trennung in kontrollfähig und unverfügbar macht, dann sagt Epiktet eigentlich: Nur diese Bereiche liegen in unserer Kontrolle. Über anderes sonst haben wir eben gar keine Kontrolle.
Persönliche Ansichten können abgeändert werden; Handlungsimpulse können gesteuert werden; Besitzstreben kann gelenkt und gezügelt werden; und Vermeidungsverhalten kann aufgelöst werden. Mit anderen Worten: Epiktet fordert uns heraus zur Arbeit an uns selbst. Nicht die Welt soll uns bekümmern, sondern unser Innerliches, unsere Handlungsziele, die Art und Weise wie wir mit beiden Beinen in der Welt stehen.
** Der Titel des schmalen Bändchens variiert mit der Übersetzung. Die online-Version von zeno.org heißt z. B. „Handbüchlein der stoischen Moral,“ http://www.zeno.org/Philosophie/M/Epiktet/Handbüchlein+der+stoischen+Moral

Dieser Beitrag soll die bisherige Reihe zur Lebensphilosophie der Stoiker unterbrechen, um die Rede von Praktischer Philosophie zu präzisieren.
Ich befasse mich seit 16 Jahren professionell mit der Philosophie, wie sie an Universitäten gelehrt wird. Das Bild der Philosophie, das von der Universität (in Form von Vorträgen, Kongressen, aber auch Büchern) in die Öffentlichkeit gestrahlt wird, ist: Philosophen sind Begriffsarbeiter, Detailanalysen, Dispute auf einem höheren Level des Denkens. Philosophiert wird hier weitgehend theoretisch, um andere zu überzeugen. Die Art des Philosophierens ist oft abstrakt, ohne Veranschaulichung, abgetrennt von lebensweltlichen Erfahrungen. Dieses Bild wird ergänzt durch Philosophie, wie sie in den Medien erscheint: etwa im Schweizerischen Fernsehen „Sternstunde Philosophie“ oder in der Zeitschrift „Philosophie Magazin.“ Hier werden eher praktische Themen erörtert. Praktisch bedeutet hier eben: die Art und Weise wie Menschen in der Welt (zusammen oder einzeln) wirken. Praktische Themen können sein: Der Klimaschutz, die Solidarität, Abtreibung. Was Philosophierend zu solchen Themen gesagt werden kann, betrifft ganz allgemein das Richtige und Falsche und das, was getan werden soll, getan werden muss und getan werden darf. Es geht hier um Recht, Pflichten, Verpflichtungen und ethische Abwägungen. Hierzu gehört natürlich auch die Theorie, auch um andere zu überzeugen.
Diese grobe Skizze des Bilds der (praktischen) Philosophie soll verdeutlichen, dass Philosophie meistens als Argumentation betrachtet wird: Als Unternehmen, ein Weltbild oder ein System von Erkenntnissen, gegen mögliche Einwände abzusichern und andere davon zu überzeugen, dass es zutreffend und richtig – oder zumindest besser als die Alternativen – ist. Das ist Philosophie als Aussage und Argumentation.
Die Praktische Philosophie, welche in den Lebensphilosophien (z. B. dem Stoizismus) zum Ausdruck kommt, ist zu vielleicht drei Teilen Aussage und Argumentation und zu sieben Teilen Einübung.
Die Theorie der Lebensphilosophie ist das, worüber wir uns verständigen und austauschen können. In diesem theoretischen Bereich spielt Wahrheit und Falschheit eine Rolle; das, was wir sagen, stimmt mit der Realität überein oder nicht. Im Bereich der Praxis der Lebensphilosophie hat Aussage und Diskussion keinen Platz und Wahrheit und Falschheit sind irrelevant.
Praktische Philosophie im Sinne der Lebensphilosophie ist eine gelebte Philosophie. Und Philosophie wird praktisch im Sinne der Lebensphilosophie, wenn ein Mensch sich entscheidet nach (s)einer Philosophie zu leben.
Gelebte Philosophie ist das stete Bemühen darum, in Taten – also praktisch – umzusetzen, was als Richtig und Gut erkannt und gelehrt wurde. Gelebte Philosophie setzt das Wort in die Tat um, harmonisiert zwischen Wünschen und Wollen, gleicht Absichten und Handlungen einander an, setzt Vorsätze in Routinen um. Sie versucht die Theorie Praxis werden zu lassen.
Das, was die gelebte Philosophie damit ins Werk setzt – die Praxis: Tat, Wille, Handlung, Routine -, kann nicht sinnvoll in den Dimension zutreffend (wahr) oder unzutreffend (falsch) bewertet werden. Die Hinsichten, nach denen gesagt werden kann, ob die lebensphilosophische Anstrengung wirklich wurden sind: Geglückt / Fehlgeschlagen; Gelungen / Verfehlt; aufrichtig / blass; eifrig / lax.
Zusammenfassend sei gesagt: Eine Philosophie in sein Leben einzubauen – gelebte Philosophie -, das wird weder medial noch Universität gelehrt. Für dieses Handwerk braucht unsere Kultur die Niesche der Persönlichkeitsentwicklung so wie sie in Workshops und Retrievs (z. B. Wochenend-Entspannungskursen) angeboten wird. Hier wird praktisches Wissen an die Hand gegeben (Knowing How) und eine Gemeinschaft geboten, in welcher dieses Wissen ausprobiert werden kann. Innerhalb dieser Niesche verorte ich auch die Idee der Philosophischen Praxis. Sie ist ein Ort und eine Gelegenheit, Philosophie zu lernen.