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Der innere Mensch ist wandelbar

In meinen Beiträgen handelte ich bisher hauptsächlich über die Selbstkontrolle und die Selbststeuerung. Die Selbstkontrolle habe ich kontrastiert mit dem, was überhaupt nicht kontrolliert werden kann. Selbstverständlich rede ich hier nicht von realen Dingen, sondern von der Verallgemeinerung von Erfahrung der Kontrolle oder der Ohnmacht. Den Bereich der Ohnmacht nannte ich das Unverfügbare. Dies umfasst z. B. den natürlichen Lauf der Dinge, den Charakter anderer Menschen oder das In-Kraft-Sein dieser oder jenes Gesetztes. Ich erfahre Unverfügbarkeit, wenn ich mit Wünschen und Willen nichts an der Faktizität verändern kann. Die Realität der Unverfügbarkeit zeigt sich mir im Erleben von Widerständigkeit. Dabei ist das Unverfügbare nicht zwingend etwas außer mir; schon das Faktum, dass mein Leib altert (der Lauf der Dinge), zeigt mir, dass ich an mir etwas unverfügbar ist. Ferner ist etwa auch unverfügbar, ob ich gerade diese oder jene seelische Erregung (Affekt) erfahre. Kontrollieren kann ich nicht das Auftauchen – welches, wie wir wissen, bio-chemisch gestreut wird (Lauf der Dinge). Kontrollieren kann ich, ob ich mich dem Affekt anheimgebe; alternativ kann ich ihn beobachten, anerkennen, auflösen.

Dem Bereich des Unverfügbaren gegenüber gestellt war die frohe Botschaft vom Bereich der Kontrolle. In der christlichen Tradition nennt man diesen Bereich den ‚inneren Menschen,‘ ich bin glücklich mit dieser Benennung, ich finde sie passend. Ich zwinge sie niemanden auf. Alternativ kann man diesen Bereich auch das Selbst nennen, obwohl das Selbst nur die Art des Zugriffs darauf ist. In loser Anlehnung an die Tradition des Deutschen Idealismus bietet es sich alternativ an, vom endlichen Bewusstsein zu reden. Damit ist der Inbegriff aller intellektiven, emotiven und volitiven Akte gemeint, die als das Subjektive einer objektiven Wirklichkeit gegenüberstehen.**

Der innere Mensch jedenfalls führt das eigentümliche Dasein, dass er in die Welt schaut. Keine andere Sache der Welt hat diesen Blick der Subjektivität. Es ist das Subjektive – das wir selbst sind. Und dieses Ich hat das eigenartige Schicksal nicht vollkommen Teil dieser Welt zu sein: denn es hat Perspektive auf die Welt. Ich meine hier den vom Philosophen Schopenhauer so genannten „Weltknoten:“ Die Welt ist in meinem Kopf und mein Kopf ist in der Welt. Das Ich ist das, was schaut. Es ist das, was man in einigen Traditionen in Indien den „Seher der Sicht, der nicht gesehen wird“ nennt.

Der innere Mensch jedenfalls schaut nicht bloß, er kann sich auch zu sich selbst verhalten. Seinen Charakter kann er ausformen. Er kann das Resultat seiner eigenen Anstrengungen, Vorsätze und Entscheidungen werden. Das schafft er durch Kontrolle und Steuerung seiner Pläne, seiner Affekte und seiner Impulse. Wie der Wagenlenker im Gleichnis Platons muss er dabei stets den Weg im Auge behalten. Er muss sich orientieren an einem Stern oder einem ähnlichen Fixpunkt, um über seine Anstrengung im Umgang mit sich nicht die Fahrtrichtung zu verlieren.

Ich möchte den geneigten Leser in den kommenden Beiträgen mitnehmen auf eine intellektuelle Reise dahin, diesen inneren Menschen besser zu verstehen. Auf dieser Reise werde ich viel Anleihen bei der Existenzphilosophie machen.

Beginnen möchte ich mit einer Geschichte aus dem zweiten Akt von T.S. Eliots Komödie „Die Cocktailparty“ ****

Eine junge Frau wendet sich im Rahmen einer Party mit ihren psychischen Problemen an einen Arzt, der ebenfalls ein Gast ist. Sie schildert ihm ihre Symptome – Unbehagen, Zweifel, Reue – und schiebt ausdrücklich nach, dass sie sich wünsche, dass die Ursache für diese Probleme in ihrem eigenen Verhalten lägen.
Der Arzt, der bis dahin ganz professionell der Symptomatik gefolgt ist, reagiert verblüfft über den Nachsatz und fragt verwundert nach, ob sie sicher sei, dass sie sich das Wünschen könne.
Ja, antwortet die Frau. Sollten ihre Probleme ihre Ursache in der objektiven Realität haben, dann wären die Probleme doch unabänderlich. Und wenn das der Fall sein sollte, dann gehörten sie doch zur Struktur der Welt dazu. Das wäre aber doch fürchterlich. Denn dann würden ihre Probleme ja niemals verschwinden. Das sei der Grund, weshalb sie hoffe, dass das Problem bei ihr läge; denn dann könne sie sich ändern.

Inspiriert diese Geschichte nachzuerzählen hat mich Jordan Peterson, welcher sie selbst in seinen Reden zur Selbsttransformation benutzt. Die junge Frau hat hier einen tiefen Gedanken: Lägen die Probleme, die uns psychisch zu schaffen machen, in der Struktur der Wirklichkeit begründet, dann wäre das tatsächlich fürchterlich. Dann wäre ihr permanentes Dasein unabänderlich und ihr Auftreten unausweichlich. Die gute Nachricht ist vielleicht, dass das Universum, in dem wir leben, so nicht ist. Unser Universum ist so konstelliert, dass Unbehagen, Reue, Zweifel, Angst, Sorge und andere Leiden das Resultat von persönlichen Werten und Einstellungen sind. Die junge Frau hofft zu Recht, dass ein Wechsel von Werten und Einstellungen – eine transformative Erfahrung, ein Wechsel in der Persönlichkeit – ihr helfen kann. Sie ist auf dem richtigen Weg, wenn sie die Ursache der Problematik auch bei sich sucht.

– Ich habe die berufsethische Pflicht an dieser Stelle dies klarzustellen:
Die Rede ist hier von sogenannten neurotischen Leiden, welches sich oft in Zuständen von Angst, Furcht, Sorge, Zweifel ausdrückt. Neurotische Leiden haben etwas mit der Fehlanpassung des mentalen Systems zu tun; sie können durch Gesprächstherapie und kognitive Verhaltenstherapie (und andere Verfahren) verändert werden. ABER: Einige psychische Leiden wie Schizophrenie oder Depression haben organische Ursachen und fallen in den Bereich des Unverfügbaren; ihre Medikation ist zwingend erforderlich, Selbsttransformation kann nur begleitend therapeutischen Nutzen haben. –

Im stoischen Sinne ist sich die junge Frau gewahr, dass sie sich nach Innen wenden muss, um eine Lösung zu finden. Was ferner in dieser Geschichte durchscheint ist ein Gedanke von Dankbarkeit, Dankbarkeit dafür, dass wir Wesen sind, die veränderungsfähig sind. Unsere psychische Konstitution geht nicht in der Faktizität auf. Sie ist abänderbar. Dafür können wir dankbar sein.

An diesem Themengebiet – Selbsttransformation durch Einstellungswandel – werde ich in den nächsten Beiträgen arbeiten.

Mir ist danach, dich, geneigter Leser, mit einem schönen Gedicht zu verabschieden. Es ist von Goethe und heißt Vermächtnis. Insbesondere die dritte Strophe – sofort nun wende dich nach innen, das Zentrum findet du da drinnen – passt thematisch zu dem heutigen Beitrag.



Johann Wolfgang von Goethe

Vermächtnis


Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen! 
Das Ewige regt sich fort in allen, 
Am Sein erhalte dich beglückt! 
Das Sein ist ewig, denn Gesetze 
Bewahren die lebendigen Schätze, 
Aus welchen sich das All geschmückt.

Das Wahre war schon längst gefunden, 
Hat edle Geisterschaft verbunden; 
Das alte Wahre, faß es an! 
Verdank es, Erdensohn, dem Weisen, 
Der ihr, die Sonne zu umkreisen, 
Und dem Geschwister wies die Bahn.

Sofort nun wende dich nach innen, 
Das Zentrum findest du da drinnen, 
Woran kein Edler zweifeln mag. 
Wirst keine Regel da vermissen; 
Denn das selbständige Gewissen 
Ist Sonne deinem Sittentag.

Den Sinnen hast du dann zu trauen; 
Kein Falsches lassen sie dich schauen, 
Wenn dein Verstand dich wach erhält. 
Mit frischem Blick bemerke freudig, 
Und wandle sicher wie geschmeidig 
Durch Auen reich begabter Welt.

Genieße mäßig Füll und Segen; 
Vernunft sei überall zugegen, 
Wo Leben sich des Lebens freut. 
Dann ist Vergangenheit beständig, 
Das Künftige voraus lebendig, 
Der Augenblick ist Ewigkeit.

Und war es endlich dir gelungen, 
Und bist du vom Gefühl durchdrungen: 
Was fruchtbar ist, allein ist wahr – 
Du prüfst das allgemeine Walten, 
Es wird nach seiner Weise schalten, 
Geselle dich zur kleinsten Schar.

Und wie von alters her, im Stillen, 
Ein Liebewerk nach eignem Willen 
Der Philosoph, der Dichter schuf, 
So wirst du schönste Gunst erzielen: 
Denn edlen Seelen vorzufühlen 
Ist wünschenswertester Beruf.


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Anmerkungen:

** Hier ist eingebettet die alte Definition des Geistes (lateinisch: mens) als der Inbegriff aller objektbezogenen Vorstellungen (Kognitionen) und intelligenten Schlussfolgerungen (Intellekt), der objektbezogenen Erregungszustände (Affekte und Emotionen) und der Handlungsimpulse (Volitionen, der Wille).

**** T. S. Eliot, Die Cocktailparty, Suhrkamp Taschenbuchverlag 1950, deutsche Übersetzung, S. 134.

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