Der Zeitgenosse Peter Sloterdijk ist ein guter Beobachter von Wandlungen der Kultur. In seinen neuesten Vorträgen (betitelt mit „Wie man mit Göttern spricht,“ anlässlich des Erscheinens seines Buches „Den Himmel zum Sprechen bringen“) kommt er auf eine Kultur der Fremdbestimmung postmoderner Jungmenschen zu sprechen. Heutige Kinder wachsen in einer Kultur der Fremdbestimmung auf: Die Geräte, die sie umgeben, geben andauernd Handlungsanweisungen; die Geräte verlangen nach Eingabe; die Geräte melden, dass es Neuigkeiten gibt; mit den Geräten melden sich die Liebsten; die Geräte müssen eingesetzt werden, um Termine zu vereinbaren; will man etwas wissen, geht man an die Geräte.
Die Allgegenwart des Smartphones und der App-Dienste ist für jemanden wie mich – Jahrgang 83 – zwar vertraut, aber doch fremd. Ich kann noch anders. Manchmal versetze ich mich in die Lage von einem, der Jahrgang 2001 ist. Ich kann mich noch an die Einführung des iPhone erinnern; für ihn war dieses Ding immer irgendwie schon da.
Slotterdijk beobachtet, dass in der moralischen Erziehung des Volkes heutzutage nur noch von Werten die Rede ist. Durch Bücherwissen hat er den Vergleichspunkt: Heute wird da von Werten geredet, wo früher (durchaus noch 1950) von Tugenden die Rede war. Das ist eine Aussage, die man leicht überprüfen kann. Schauen Sie selbst: In den Kundgebungen der Parteien, den moralischen Reden der Politiker, in den Predigten, im Ethik-Unterricht in der Schule, in Büchern über Pädagogik – und an vielen anderen Orten der moralischen Erziehung mehr – überall sind es Werte, die explizit gemacht werden.
Die Reihe „Grundwerte Europa,“ herausgegeben von Clemens Sedmak, erschienen u.a. bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt kennt: Würde, Freiheit, Frieden, Gleichheit, Toleranz, Solidarität. Die stets eifernde Aktivismus, der heutige Moraldebatten begleitet, ergänzt schnell: Vielfalt.
Weder mir noch Sloterdijk geht es bei der folgenden Beobachtung darum, das moralische Gewicht dieser Werte anzusprechen. Jenseits von Moral kann man feststellen: Es hat ein Kulturwandel stattgefunden. Hat man früher Tugenden eingefordert, so verpflichtet man heutzutage auf Werte. Sloterdijk gelangt zur Schlussfolgerung: Tugenden traut man den Menschen heute nicht mehr zu.
Dies bringt uns zum ersten Gedanken zurück. Die vorherrschende Kultur der Verpflichtung auf Werte passt zum Klima der Fremdbestimmung. Und auch der Verzicht auf den Appell nach Tugend passt in dieses Klima,. Warum? Tugend bedeutet innere Durcharbeiten des Menschen. Der Erwerb von Tugend ist mit Disziplin gegen sich selbst verbunden, mit Selbstbestimmung.
(In meinen Einführung-Videos für Schüler habe ich diese Tradition besprochen; falls Sie interessiert sind, schauen Sie den Teil des Platon-Videos zum Gleichnis des Seelenwagens: https://www.youtube.com/watch?v=t67CU2PgIoo&t=7s ab Minute 18:08.)
Wir werden unzeitgemäß, wenn wir die Kultur der Tugend ansprechen. Meine Vermutung, die ich durch Studieren noch zu stärken habe, ist die: Mit der Ethik des einflussreichen Immanuel Kants ist das Hauptgewicht auf das Sollen in der Moral gelegt worden. Diese Ethik des Sollens zeigt sich heute im Kleid der Werte. Der Werte-Himmel, auf den wir uns verpflichten und den wir unseren Kinder beibringen, ist das schlechthin Sollens-Würde. Es soll sein: Würde soll sein, Freiheit soll sein, Frieden soll sein, Gleichheit soll sein, Toleranz soll sein, Solidarität soll sein, Vielfalt soll sein.
Das, was sein soll, ist noch nicht. Mit diesem bemerkenswert schlichten Satz hat Hegel die Logik der Werte begriffen: Damit es wird, was es sein soll, muss es verwirklicht werden. Das einzige uns bekannte Wesen, das einen Wert verwirklichen kann, ist der Mensch selbst. Mit dem Ruf nach werteorientierten Handlungen ist also der Mitmensch angeredet. Und zwar stets von außen, von der Autorität her.
Über die Transformation der Sollens-Ethik zur Wert-Debatte wurde das Erbe der Tugendethik ganz vergessen. Dieses Erbmasse, seit den antiken Griechen angehäuft, gepflegt in den spirituellen und asketischen Traditionen und Einrichtungen, wird in der Öffentlichkeit nur wenig zur Kenntnis genommen.
Tugend ist der feste Vorsatz, der zur Charaktereigenschaft geworden ist. In Tugend verwirklichen sich Werte. Aber diese Werte sind versehen mit der inneren Anerkennung. Anders als in der Kultur der Verpflichtung auf Werte ist die Kultur der Tugend beseelt und hat innere Substanz. Diese Tiefe hat die Tugend, weil sie als Charakterzug gewachsen ist und ihren Träger durch viele Situation begleitete. (Wer mehr erfahren mag, der lese Otto Friedrich Bollnow, „Wesen und Wandel der Tugenden.“)
Feste Vorsätze, Arbeit an sich, innerliches Durcharbeiten, Anstrengung, Verfeinerung – also all das, was die Menschen in den Taten beweisen und in kraftvoller Weise erzeugen müssen; wozu spirituelle Übungen nötig sind – das traut man Menschen heute nicht mehr zu.
Das Menschenbild des Verbrauchers, des Konsumenten, des Hedonisten – welches wir allzu leichtfertig übernehmen – kennt diese Anstrengung nicht. Sloterdijks Beobachtung hat hier ihre Wurzel: Den Menschen traut man die Internalisierung von Werten nicht mehr zu. Statt auf Selbststeuerung zu setzen, appelliert man an „unsere Werte.“