Ich möchte das Thema des letzten Beitrags vertiefen.
Die Anempfehlung, die Sokrates jedem Wissbegierigen erteilt: „Pflege deine Seele; strebe nach Tugend; tue stets das Rechte“, ist der Boden zahlreicher anderer Philosophien geworden. Sokrates hat eine enorme Auswirkung gehabt; In jedem Jahrhundert würdigte man die sokratische Lehre. Der Interessierte kann sich davon überzeugen, z. B. mit Hilfe des Abschnitts „Nachwirkungen“ im Eintrag in der Wikpedia https://de.wikipedia.org/wiki/Sokrates.
Weisheit, sagt man, veraltet nicht. Sie muss aber ab und zu dem Wissenstand und der Weltanschauung einer neuen Zeit angepasst werden. Deswegen ist es für die heutige Zeit angebracht, in Sachen Weisheit auch die Psychologen anzuhören. Dieses Wissensgebiet hat ja enorme Kräfte auf die Erforschung von Lebensführung und Glückseligkeit verwendet.
Betrachten wir „Pflege deine Seele; strebe nach Tugend; tue stets das Rechte“ also erneut. Diese Empfehlung fordert unter anderem dazu auf, Macht über sich selbst zu bekommen, handlungsfähig zu werden. Selbstmächtigkeit ist ein bedeutender Faktor eines gelingenden Lebens.
Selbstmächtig nennt man eine Person, die sich selbst als das Subjekt ihrer Handlungen erfährt. Ein solche Person empfindet die Zukunft als einen Bereich, der ruht, und in dem sie sich strebend ausdehnen kann. Diese Haltung gegenüber dem Selbst in der Gegenwart und der Handlungsmöglichkeiten in der Zukunft macht den Selbstmächtigen zu einem aktiven Gestalter. – Das Kontrastbild dazu ist der gehemmte Mensch. Ein Mensch, der sich stets als das Objekt seiner Entscheidungen empfindet; dem die Sachen passieren, der ein passiv leidender des Ereignisverlaufes ist (das umgangssprachliche Opfer). Dieser Mensch erfährt sich in der Gegenwart als passiv und empfindet die Zukunft als etwas, das auf ihn zukommt, das ihn zu ersticken, zu überrollen, zu übermannen droht. Aus Furcht oder Zweifel wird er so handlungsunfähig, seine Einstellungen zu sich und den kommenden Dingen lähmt ihn.
Handlungsmächtigkeit beginnt, so übersetzte ich Sokrates in die heutige Zeit, in der Übung dabei, sich selbst unter Kontrolle zu bringen. Diese Fähigkeit nennt man Selbststeuerung. Der Arzt und Autor Joachim Bauer hat ein verständliches Buch über diese Komponente selbstbestimmten Lebens geschrieben: J. Bauer, Selbstbestimmung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, Blessing-Verlag, 2015. Er definiert: Selbststeuerung als ein im Dienste der Selbstfürsorge stehendes Bemühen. Und zwar als ein Bemühen um eine Balance zwischen Selbstkontrolle einerseits und der angemessenen Berücksichtigung der Triebwünsche andererseits.
Diese Aufgabe – Selbststeuerung zu üben – kennt schon Platon. (Ich verweise auf das Erklärt-Video, das ich für Schüler produziert habe | https://www.youtube.com/watch?v=t67CU2PgIoo&t=7s | ab ca. Minute 18 komme ich zum Thema.)
Wenn ein Psychologe von Triebwünschen spricht, dann, so meine ich, versteht die Allgemeinheit (ich eingeschlossen) darunter Sex. Das ist zwar richtig, aber Geilheit ist nicht die einzige Dimension, wie wir das seelische Erfahren, welchem wir im Sinne der sokratischen Empfehlung eine Richtung geben soll. Gemeint sind ganz allgemein, all jene drängenden Kräfte in uns, die auf Befriedigung aus sind. Ganz allgemein fallen darunter die Grundbedürfnisse, die sinnlichen Freuden und die Konsumwünsche (jenes Bedürfnis, das das Denken besetzt und schreit: „Das will ich haben.“).
Macht über sich selbst zu bekommen ist ein weit angelegtes Unternehmen. Was uns im Sinne des Erwerbs von Selbstbestimmung aufgegeben ist dies: Unsere Bedürfnisse, Begierden und Wünsche einer stets abrufbaren Kontrolle zu unterwerfen. – Das Negativbild ist auch hier: der unkontrollierte Mensch, wobei „die Kontrolle verlieren“ soviel heißt wie „sich an seine Wünsche und an seine Begierden verlieren“.
Krankhafte Fälle dieses Kontrollverlustes sind z. B. Essstörungen wie Binge-Eating oder der sog. Ochsenhunger. Essstörungen gehören zu den sogenannten Störungen der Impulskontrolle. Eine andere Störung aus dieser Klasse psychischer Störung ist das krankhafte Einkaufen. Aber auch der krankhafte Gebrauch von Netflix (Stichwort: Binge-Watching) fällt hierunter.
Impulskontrollstörung – das kannten Sokrates und all die anderen antiken Philosophen auch. Vieles von dem, was sie über den idealen Menschen schrieben, ist vor dem Hintergrund gedacht, dass man die Kontrolle verlieren kann. Aus dieser Tradition kommt unser Ideal der Selbstbeherrschung, der Autonomie, der Selbstkontrolle, des gemäßigten Umgangs mit den Begierden und so fort.
Eine andere Art, sich zu verlieren an Wünsche und Begierden, ist die Sucht. Dieses Thema will ich nur erwähnen, nicht vertiefen. Mein Kollege Thomas Becker spricht es öfter intensiv in unseren Podcasts an (https://www.youtube.com/channel/UCihlIr3eSOpdkF56CouaLGg).
Selbstkontrolle zu gewinnen über die eigenen Begierden, Triebe, Impulse und Wünsche beginnt bei der Achtsamkeit. Ich vermute, dass unkontrollierte Menschen eine tiefe Störung der Körperwahrnehmung haben. Achtsam zu sein, kann man lernen. Thomas Becker und ich haben das in unserer jüngsten Folge besprochen (https://www.youtube.com/watch?v=3N7XyugPlD4; etwa Mitte 37:30). Natürlich sind unsere Ratschläge und Einsichten nicht der Weisheit letzter Schluss; aber einer unter vielen Wegen.
Lebensphilosophie ist gelebte Philosophie. Gelebte Philosophie braucht Übungen. Es geht hier nicht um Wahrheit und Falschheit, sondern es geht darum, Lebenswandel herbeizuführen, kontrollierter zu werden. Acht zu geben auf die Kräfte, die innerlich zum Handeln drängen (jene Impulse, Begierden, Triebe, Wünsche usf.) ist eine tägliche Übung. Es ist nicht die einzige und nicht die seligmachende.
In Zukunft werde ich hier im Blog auch andere Übungen, die aus den alten philosophischen Traditionen stammen, erklären.
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass die Pflege der Seele auch bedeutet, sich innerlich durchzuarbeiten. Selbstkontrolle üben bedeutet auch, einmal nicht auf die Impulse zu reagieren. Verzichten, den Reiz aussitzen, ganz klar Nein zur Begierde sagen. So erfährt an, dass man das Subjekt seiner Taten ist. Mit diesen Übungen am Selbst ausgestattet können wir dann der Zukunft begegnen und frohen Mutes erwarten, dass wir auch das kommende kontrollieren können.