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Ein Schritt in Richtung Achtsamkeit

In vielen Weisheitstraditionen gibt es Achtsamkeit-Übungen, so z. B. im Buddhismus und im Stoizismus. Ich persönlich kenne die letztere viel besser als die erste. Einige stoische Übungen praktiziere ich selbst. Sie sind hilfreich dafür, ein überlegterer und in sich ruhender Mensch zu werden. Wie angekündigt will ich in diesem Blog in loser Folge einige Übungen vorstellen. Solche Übungen haben immer theoretische Lehrsätze zur Voraussetzung: Die Theorie sagt einem sozusagen, was einzuüben ist und zu welchem Zwecke. Deshalb werde ich hin und wieder auch theoretisch reden müssen. Vor die Behandlung der Sache stelle ich meinen persönlichen Weg zum Stoizismus dar.

Den Kontakt zum Stoizismus habe ich mir nicht bewusst ausgesucht. Ich bemängele ja oftmals die Moralerziehung in unserem Land. Von den endogenen Weisheitslehren, also die, welche aus der hebräisch-graeco-romanisch-christlichen Tradition kommen (dieser Ausdruck ist selber ausgedacht!), erfährt man aus Fernsehen, in den üblichen Schulen und in den Gemeinden wenig. Viel attraktiver sind die exogenen, die auch ziemlich exotisch sind. Ich bemängele nichts, wenn ich so rede. Ein gesunder Synkretismus (ein Zusammensuchen) aus diesem und jenen ist vielleicht der Weg der Zukunft. Was ich sagen will: Jene Weisheitstraditionen, die ich meine, und die zur Erbmasse unserer Kultur gehören, gehören nicht zum Schrott der Geschichte, sondern können, wenn man sich entscheidet, in ihnen zu leben, die Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig prägen.

Der Stoizismus erfährt ja in der englischsprachigen Welt ein globales Revival. Ich werde darüber und über den traditionellen Stoizismus in zukünftigen Blogeinträgen schreiben. Zu meinem Bedauern zieht diese Wolke über das Tal der Ahnungslosen hinweg.

Wie auch immer, ich persönlich bin in 24 Lebensjahr eher zufällig auf den Stoizismus gestoßen. Ich legte ein Universitäts-Seminar zum Kreativen Schreiben. Frau Dr. Mischer (Grüße!) drückte den fünfen, die den Weg in den Kurs fanden, das „Handbüchlein der Moral“ von Epiktet auf Auge**; es sollte uns als Grundlage dienen für einen Aufsatz über das glückliche Leben, mit welchem das Seminar abschloss.

Ich bin dankbar, dass mir Epiktet so zugefallen ist. Ich grub mich in Büchern über die Stoa ein und las für einige Wochen meditativ in diesem Text. Er hat mich sehr angerührt. Der Ernst der Worte und der Inhalt der Lehre – den ich durch die zusätzliche Lektüre vertiefter verstand – bewirkte in mir einen Lebenswandel. Noch niemals vorher hatte ich dies durch ein Gedankensystem erfahren. Eigentlich las ich an der Universität Kant und andere theoretische Texte. Dies verwandelte zwar auch mein Verhältnis zur Welt. Aber es forderte mich nicht zum Wandel meines ganzen Lebens auf. An einem sonnigen Tag auf der Wiese, in der Woche sieben meiner Beschäftigung mit Epiktet und dem Aufsatz, schlug dann der Gedankenblitz ein. Epiktet redet davon, dass „Philosoph“ ein Ehrentitel ist und dass man sein Leben ändern muss, um ein Anwärter darauf zu sein. Ich wollte diesen Titel erwerben und da war mir besonders einprägsam:

„Entscheide dich jetzt […] Du hast die philosophischen Lehren empfangen […] Auf was für einen Lehrer wartest du jetzt noch, um ihm die Aufgabe zu übertragen, deine Besserung zu bewirken.“

Epiktet, Handbüchlein der Moral (L)

Da fand ich mich eben auf mich selbst zurückgeworfen. Natürlich, diesen Ehrentitel kann ich nur erwerben, indem ich ihn mir durch Taten verdiene. Hier ward ich in meiner Existenz angesprochen: Du musst etwas aus dir machen! Wenn du das erreichen willst, dann bilde dich derart aus!

Ein zeitgenössischer Vertreter des Stoizismus, Massimo Pigliucci, sagt zu Recht, dass Epiktet ein Non-Bullshit Denker sei. Er hat das Wichtige und das Ernsthafte im Blick, soll das heißen. Logische Dispute oder theoretische Fragen findet man bei Epiktet nicht. Seine Lehre ist praktische Philosophie: Gelebte Philosophie. Mit Epiktets Büchlein habe ich für persönlich jedenfalls gelernt, was es heißt, achtsam zu werden.

Als erster Schritt dahin, dem geneigten Lesen mehr von stoischen Achtsamkeitsübungen zu erzählen, wird dieser Beitrag umreißen, was dieser besondere Zustand – die Achtsamkeit – besagen soll. Mit der Hilfe einiger Brocken aus der Philosophie Epiktets soll das dann erläutert werden.

Ein übliches Missverständnis der Achtsamkeit denkt etwa so: Achtsam ist der, welcher die Welt und sich aufmerksam wahrnimmt. Das ist insofern nicht korrekt, als hier der gewöhnliche Zustand des wachen Bewusstseins mit dem zu erreichenden Zustand der Achtsamkeit verwechselt wird. Es ist wichtig, sich diesen Unterschied ganz deutlich zu machen.

Ein Exkurs über die Natur des gewöhnlichen wachen Bewusstseins ist daher sinnvoll: Wenn wir wach sind, dann lenken wir unsere Urteile und Gedanken aufmerksam auf ein Objekt. Das ist die gewöhnliche mentale Aktivität. Genau genommen ist „mentale Aktivität“ der Oberbegriff für Prozesse wie Vorstellen, Wahrnehmen, Aufmerken, Wünschen, Erwarten, Bewerten und dergleichen (der Fachausdruck ist Kognition). Eigentümlich ist, dass alle diese Prozesse ein Objekt haben (der Fachausdruck hierfür ist Intentionalität). Das Objekt dieser Aktivität ist ganz schlicht das, auf das sich diese Aktivität bezieht. So ist „Einen Gedanken haben“ und „An ein Objekt denken“ ein und derselbe Prozess; ebenso ist „Einen Wunsch haben“ und „Etwas wünschen“ ein und dasselbe; und so für alle anderen Prozesse dieser Art. Undenkbar, dass diese Prozesse kein Objekt haben. Beispielsweise ist ein Wunsch ohne Bezug, ein leerer Wünsch ein Unding, hölzernes Eisen, ein Widerspruch. Ebenso hölzerne Eisen wäre leere Erwartungen oder leere Einbildungen. Der Inhalt von mentalen Prozessen kann verworren sein oder klar, aber es bleibt ein Inhalt. Glasklare Gedanken sind ja eine Seltenheit, ganz oft sind die Gedanken unklar, undeutlich, uneindeutig, konfus, diffus oder vage; aber immer haben sie einen Inhalt. Das eben ist die Natur mentaler Prozesse, sie beziehen sich immer auf etwas: ihr Objekt. Wir sagen dazu, dass sie Bezug haben oder dass sie lnhalt haben (manche sagen auch, dass sie Gehalt haben). Dieses Objekt unsere mentalen Aktivität ist immer etwas, auf das wir zu sprechen kommen können. Mit anderen Worten: Das, worauf wir uns beziehen, wenn wir wünschen, vorstellen, erwarten usw. kann mit unserer normalen Sprache zum Thema werden. Wir sind ja in unseren mentalen Aktivitäten nicht eingeschlossen, sondern können uns über unsere Gedankeninhalte, Wunschobjekte, Erwartungsinhalte usf. unterhalten und austauschen. Exkurs Ende.

Achtsamkeit ist eine Haltung, die wir einnehmen, wenn wir uns selbst betrachten beim Vorstellen, Wünschen, Erwarten, Bewerten usw. Das, worauf der Achtsame blickt, ist seine eigene Aufmerksamkeit. Aus naheliegenden Gründen nennen andere Weisheitslehrer diese Haltung auch bewusstes Wahrnehmen oder höheres Bewusstsein. Bewusstsein bedeutet ja begleitendes Wissen. Wenn ich bewusst gehe z. B., dann gehe ich nicht bloß, sondern ich weiß noch darüber hinaus, dass ich gehe. Wer auf ähnliche Weise die gewöhnliche mentale Aktivität von dem Wissen darüber begleiten lässt, der wandelt achtsam durchs Leben. Dieses Sich-Selbst-Beim-Denken betrachten oder Sich-Selbst-Beim-Wünschen betrachten, das kann willentlich herbeigeführt werden, es ist aber anstrengend und ermüdend, es muss geübt werden und seine Dauer kann mit zunehmender Übung gesteigert werden.

Aus der obigen Betrachtung der Natur des gewöhnlichen wachen Bewusstsein wissen wir, dass wir ständig und immerzu aufmerksam Bezug nehmen (auf Inhalte aller Art). Wir sind im Wachzustand sozusagen in Gedanken immer irgendwo. Achtsamkeit nennen wir nun nicht die Aufmerksamkeit, die durch das gewöhnliche Wachen immer schon hergestellt ist, sondern eine Aufmerksamkeit zweiter Stufe. Wer achtsam ist, der achtet auf den Prozess der Herstellung von Aufmerksamkeit. Wer achtsam ist, der achtet auf seine Einstellung zu den Inhalten der mentalen Aktivität. Beispiele mögen das verdeutlichen.

Du gehst durch die Einkaufsstraße und wirst aufmerksam auf die Werbung für einen Handyvertrag. Betrachte nun nicht weiter das Angebot, sondern betrachte, welche Bedeutung du dem Angebot schenkst. Es steigt in dir der Wunsch nach einem neuem Smartphone auf? Bedenke nicht weiter das Gerät, sondern welche Bedeutung du ihm schenkst. Du gehst weiter und denkst an das Meeting, dass du morgen Mittag haben wirst. Dein Kollege wird sich sicher wieder aufspielen. Das nervt dich. Bedenke nicht weiter die unangenehme Art deines Kollegen, sondern welche Bedeutung du dieser Art schenkst.

Die Forderung der Achtsamkeit lautet: Sei aufmerksam darauf, auf was deine Aufmerksamkeit gelenkt ist und bedenke die Bedeutung, die du dem Vorstellungsinhalt gibst.

In der Philosophie Epiktets wird das Einüben von Achtsamkeit empfohlen, um ein Gegenmittel gegen die negativen Affekte zu haben. Negative Affekte wie Angst, Zorn, Wut, Kummer, Sorge, Furcht, Eifersucht, Sehnsucht, aber auch Begierde, Lust, Geilheit – das ist die Kurzfassung – schränken unsere Handlungsfähigkeit ein. Unser klares Denken wird von diesen Affekten überlagert, eingeschränkt; wir sehen die Welt eingeengt, Optionen stehen uns nicht zur Wahl, wir sind in unserer Persönlichkeitsentwicklung eingeschränkt, sind gehemmt, gehindert, wir haften uns an die Dinge. Mit einem Wort: Das Ziel der stoischen Übung ist es, sich von diesen Affekten frei zu machen; das glückliche Leben ist eines der Abwesenheit negativer Affekte.

Um das Entstehen dieser Affekte aufzulösen, um diesen Affekten aktiv zu begegnen empfiehlt Epiktet das Gegenmittel Achtsamkeit. Dem schon fortgeschrittenen Schüler gibt er mit auf dem Weg, dass er auf seine Vorstellung stets auf diese Weise acht geben möge:

„Bestrebe dich, jeder unangenehmen Vorstellung sofort zu begegnen mit den Worten: du bist nur eine Vorstellung, und durchaus nicht das, als was du erscheinst.“

Epiktet, Handbüchlein der Moral (I)

Fühlst du ein Widerstreben in dir? Oder bist du besorgt? So lass dich nicht in diese Gefühle fallen, sondern sei aufmerksam, darauf dass deine Emotionen und deine Einstellungen zu den Dingen nicht dasselbe ist wie das Objekt deiner Vorstellung. Hinter solch einem Ratschlag steht ein Wissen darüber, wie mentale Aktivität funktioniert. Vorstellungen sind teils sprachliche teils (träum)bildartige Darstellungen von etwas, was in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft ist. Unsere Einstellungen und Emotionen beziehen sich auf diese Inhalte. Epiktet Empfehlung ist zweifältig, er sagt 1.) sei aufmerksam, dass der unangenehme Affekt zur selben Zeit auftritt wie der Gedankeninhalt und 2.) mache dir klar, dass die Quelle des Unbehagens deine Vorstellung ist, deine Einstellung.

Wenn wir uns auf diese Weise auf Distanz gehen zu unserer eigenen mentalen Aktivität, haben wir schon einen Schritt hin zu einer achtsameren Lebensweise gemacht. Diesen Schritt einzuüben, dies sollte die Aufgabe des Anfängers in der philosophischen Lebensweise sein. Tatsächlich erkennt man jemand, der in der Lage zum Philosophieren ist, daran, dass er unterscheiden kann zwischen Denken und Sein. Die Welt ist im Kopf und der Kopf ist in der Welt. Das, was ich denke, hat eine subjektive und eine objektive Seite. Nicht der Baum ist in meinem Kopf, sondern ein Bild des Baumes, das ich mit einem Begriff versachliche.

Unbedarfte Köpfe vermischen Wunsch und Realität, Sein und Sollen, Denken und Wirklichkeit, Wach-Sein und Traum, Empfindung und Argument. Achtsamkeit ist nichts, was spezifisch wäre für Epiktet oder den Stoizismus oder sonst wie aus einer bestimmten Weisheitslehre kommt. Achtsamkeit ist die Fähigkeit, über die eigenen Einstellungen zu Gedankeninhalte zu reden und sich zu seinen Gedankeninhalten dann zu verhalten.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Weg der Achtsamkeit beginnt da, wo man weigert, sich den üblichen und automatisch sich einstellenden Gedanken, Wünschen und Erwartungen hinzugeben. Ich sehe ein Stück Kuchen in der Auslage, und will es haben. Ich sehe einen gut gekleideten Menschen und halte ihn für erfolgreich. Mein Partner kritisiert mich und ich fühle mich gekränkt. Dies sind alltägliche Fälle, in welchen eine vorschnelle Verbindung zwischen Aufmerksamkeit und Affekt bzw. Bewertung beobachtet werden kann. Die Distanz zu den Gedanken entsteht langsam in einer kontinuierlichen Übung. Ist die Distanz da, dann sind wir der Selbstkontrolle fähig.

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Anmerkungen:

** Der Titel des schmalen Bändchens variiert mit der Übersetzung. Die online-Version von zeno.org heißt z. B. „Handbüchlein der stoischen Moral,“ http://www.zeno.org/Philosophie/M/Epiktet/Handbüchlein+der+stoischen+Moral

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