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Über Lebensphilosophie und Lebenskönner

Die stoische Lebensphilosophie kann man als eine Art von Therapie verstehen. Das bedeutet nicht, dass jeder, der sie praktiziert im klinischen Sinne krank war. Therapieren hat eine ziemlich harmlose Grundbedeutung. Es bedeutet so viel wie begleiten. Erst die weitere Bedeutung ist: Heile-Machen, kurieren, gesunden. Der Therapeut ist – wörtlich genommen – der Begleiter. Und Begleitung ist nicht nur nötig bei einer Krankheit. Auch eine persönliche Krise braucht Begleitung. Der Anfänger in einer Weisheitslehre braucht Begleitung. Und auch der Blinde braucht Begleitung.

Es gab eine langen Zeitraum in der europäischen Geschichte, da man Philosophen zutraute lebenspraktische Weisheit, Ratgeber und Lebensbegleiter zu sein. Es ist dieses Erbe, an dem ich in meiner Praxis interessiert bin; ich möchte es sozusagen restaurieren und nutzen. Nutzen aber heißt es mit anderen einzuüben und es sonstwie in das Leben einzubringen.

Philosophen können auch heute noch mit Expertise sprechen. Sie sind Experten für das Allgemeine im Leben, das heißt für das, was an jedem Tag und zu jeder Stunde wichtig ist im Auge zu haben. Das Allgemeine, das für das Leben wichtig ist, ist z. B. Entscheiden, Wählen, Selbstkontrolle über, Aufmerksam werden, das Ziel nicht aus dem Auge verlieren, Priorisieren, hinter seinem eigenen Entschluss stehen, sich nicht belügen und betrügen und dergleichen mehr.

Als Weisheitslehrer und Lebensratgeber können die praktischen Hinweise eines Philosophen einen zum Lebenskönner machen. Der gelungene Ausdruck „Lebenskönner“ ist eine Schöpfung des Vaters der Philosophischen Praxis, Dr. Gerd Achenbach [https://www.achenbach-pp.de]. Lebenskönner verstehen es, dem Spiel aus Notwendigkeiten und Zufällen ein persönliches Ziel zuzufügen und standfest zu werden. Lebenskönner kennen sich und wählen klug, sie schießen nicht über das Ziel hinaus und fühlen sich mit der Welt verbunden. Der Lebenskönner ist sozusagen die zeitgenössische Form des weisen Menschen, einer der sich darauf versteht ein Leben zu führen, das gelingt.

Von einem Philosophen darf man im Gespräch keine besonderen Ratschläge erwarten. Da gehe man bitte zu Fachleuten: Steuerberater, Finanzberater, Schmerzberater, Einkaufsberater, Aufräumberater, Ernährungsberater, Trainer usw. Bei einem Philosophen bekommt man Ratschläge zur eigenen Stellung in der Welt und im Verhältnis zur ganzen übrigen Natur, zum richtigen Verhalten gegenüber anderen Menschen, zu den Wegen der Selbsterkenntnis sowie zur klugen und überlegten Wahl.

Die Überschneidung zu anderen, eventuell spirituell sich nennenden Traditionen ist nicht zufällig. Ein beratender Philosoph bedient sich einer Theorie, das ist eine Menge von Einsichten zur guten Art und Weise ein Leben zu führen. Diese Theorie nennen wir seine Lebensphilosophie. Lebensphilosophen beinhalten im Grunde Einsichten aus drei Themenbereichen: Was ist die Welt? Auf welche Weise stehe ich in ihr? Wie soll ich mit anderen Menschen umgehen? Und zusätzlich haben sie eine Reihe von Übungen, um das Leben der Einsichten entsprechend einzurichten.

Auf diese Fragen gibt jede spirituelle Tradition eine Antwort, sei es der Daoismus, der Buddhismus, der Hinduismus, der Islam oder das Christentum. Gelebte Philosophie und Religion unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht. (Der eklatante Unterschied liegt darin, dass die gelebte Philosophie von frei sich verbindenden Personen eingeübt wird, während die Religionen je verschiedene Kultus-Feiern und Einweihungsriten haben.)

In diesem Sinne ist auch der Stoizismus eine Lebensphilosophie. Sie hat als theoretischen Unterbau Antworten auf jene drei Fragen parat. Und sie hat Übungen ausgebildet, mit denen der, der Fortschritte macht, jene Lebensphilosophie praktisch werden lassen kann. Praktisch werden heißt letztlich: Theorie und Praxis, Wort und Tat, Einsicht und Handlung, Überzeugung und Wahl, Verstand und Wille, Vernunft und Impuls in eine Ausrichtung zu bringen.

Therapeutisch ist die stoische Philosophie, indem sie verspricht, 1) den Praktizierenden von unangenehmen Affekten (wie Angst, Sorge, Wut, Verbitterung, Groll, Eifersucht) zu lösen und 2) ihn handlungsfähiger zu machen. Handlungsfähigkeit hat großen Anteil an psychischer Gesundheit. Eigenschaften eines Handlungsfähigen sind: Ohne Hemmung der Zukunft entgegen gehen, sich mit dem Handlungsfeld (der Heimat, der Gemeinschaft, dem Planeten, der Natur, Gott) verbunden fühlen, ungehemmt durch Reue handeln, sich selbst vergeben können, hinter einer Entscheidung stehen können. Diese Leichtigkeit verspricht der Stoizismus. Gemeint ist, dass man einen Gemütszustand anstrebt, der Gelassenheit genannt wird.

Der Philosoph als Ratgeber kann aber nur Hinweisgeber sein. Die Praktizierung, die Übung liegt nur in deiner Hand. So wie man jemanden, der blind ist, schlecht die Farben erklären kann, so kann man nicht schlecht die lebens- und geisteswandelnden Anteile des Stoizismus (oder andere Lebensphilosophien) jemandem erklären, der es auch nicht ausprobiert.

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