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Über die Entklammerung von Meinung und Realität

Achtsamkeit erlaubt es uns, eine Distanz zwischen uns und die Dinge zu bringen. Diese Kluft zwischen (m)einem Innen und Welt allein ist eine befreiende Zone der Beruhigung. Nicht jedes Ereignis wird mich dann zum Reagieren bringen; zwischen jedem Ereignis und meiner Reaktion liegt die Verzögerung der achtsamen Beobachtung. Diese herbeigeführte Distanz zur Welt stiftet Zeit und Freiheit, sich auf das Ereignis einzustellen.

Unachtsame Menschen, die diese Distanz zwischen ihren Meinungen und den Dingen nicht herstellen können, neigen dazu, gleich auf ihre Eindrücke oder Impulse zu reagieren. Der typische Fehler, der ihnen dabei unterläuft, ist der: Sie vermischen den dazugedachten Anteil ihrer Vorstellung mit dem dinglichen Anteil. Diese Vermischung von Bewertung und Fakt bewirkt oft Sorgen, Furcht oder Angst sonstwie ein unangenehmer Affekt. Typische Beispiele für solche Verwirrungen im Denken:

„Mein Kollege kritisiert schon wieder meine Arbeit, also mag er mich nicht.“ (voreilige Schlussfolgerungen)

„Heute ist mir wieder ein Fehler unterlaufen, mir unterlaufen immer Fehler, ich kann einfach nichts.“ (Verallgemeinerung)

„Ich wurde nicht befördert; niemals werde ich eine Karriere haben.“ (negative Zukunftsprognose)

„Der hat viel Geld, also ist er glücklicher als ich.“ (falsche Attribuierung)

und viele andere Denkkonfusionen mehr.

Was praktisch aus diesen Konfusionen folgt ist stets Hemmung. Fassen wir solche Gedanken und lassen uns auf sie ein, so bewirken sie negative Affekte wie Selbsthass, Sorge, Angst, Zweifel usw. Diese Gefühle schränken uns ein, weil sie das Denken belagern. Von Affekten belagertes Denken fokussiert sich auf das Schlechte und Üble. Eingeengtes Denken hemmt aber unser volles Potenzial, etwa die, Handlungsmöglichkeiten zu sehen In einem anderen Sinn führt die Denkkonfusion zur Hemmung, indem sie uns erstarrt. Wir haben dann keinen Handlungsantrieb mehr, sehen nicht mehr ein, weshalb wir überhaupt noch etwas tun sollten:

„Die Welt und alle in ihr sind doch ohnehin schlecht und gegen uns.“ (Globales Misstrauen).

Über diese Vermischung von Meinung und Realität will ich heute schreiben. Und wieder beziehe ich mich dafür auf die Weisheitstradition des Stoizismus. Der Stoizismus hat im Laufe der Jahrhunderte bemerkenswerte Einsichten darüber gewonnen, a) wie diese gedanklichen Verbindung von Meinung und Realität entsteht und wie man diese Vermischungen vermeiden lernen kann.

Auch Epiktet lehrte** in seinen Belehrungen über jene verwirrte Vorstellungen und ihre pathologischen (das heißt hier: von schlechten Affekten begleiteten) Konsequenzen für unser Leben. Das vielleicht berühmteste Zitat dieses stoischen Philosophen, den wir bereits aus der Einführung zu den Achtsamkeit-Übungen kennen, lautet:

„Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beunruhigen die Menschen.“

Epiktet, Handbüchlein der Moral, V.

Darin spricht sich ein tiefe Einsicht in die Natur der Prozesse, die menschliches Handeln motivieren, aus. Menschen werden von ihren Meinungen motiviert, und nicht von der Faktenlage. Die Diagnose die Epiktet stellt: Affektives Reagieren ist gleichbedeutend damit, dass man sich einer Meinung über die Welt überlässt. Und nur folgerichtig ist es, auf der Basis dieser Diagnose, das Heilmittel im Umkreis der Veränderung dieser Meinungen zu suchen.

Die Auseinandersetzung mit diesem Lehrsatz ist keine schöngeistige Spielerei. Die konstruktivistische Psychologie um Paul Watzlawick, die Depressionstheorie um Aaron Beck, die Kognitive Verhaltenstherapie um Donald Robertson und die Sozialpsychologie um haben den Sachgehalt dieser Beobachtung bestätigt und arbeiten mit dieser Lehre. ****

Will man weise werden, so mache man sich einmal im Leben klar, welche Postion wir Menschen denkend zur Welt einnehmen. Nicht die Welt ist in meinem Kopf, sondern ein Bild von der Welt. Die Welt ist immer vermittelt durch Wahrnehmung und Sprache und wird im Wach-Zustand quasi von innen her mit Erinnerungen, Einbildungen und gedanklichen Zusammenhängen (Verstand) verbunden. Die normale mentale Aktivität ist immer ein individuelles Bewusstsein, das mit Intelligenz, Emotionalität und Willen einer objektiven Welt gegenübersteht.

Gelebte Achtsamkeit hat zum Ziel:

Separiere deine Faktenurteile von deinen Bewertungen.

Die Vermischung von Meinung und Realität, auf die wir achtsam sein sollen, wird bewusst, wenn wir uns Fälle aus dem Alltagsleben ansehen, wo wir sagen „Das ist gut.“ und „Das ist schlecht.“ Zum Beispiel: „Der Topf kocht über- das ist schlecht.“ „Der Kaffee ist im Angebot – das ist gut“ Der geneigte Leser möge richtig verstehen: Thematisch sind wir hier nicht bei schlecht und gut, sondern bei der Vermischung. Der Achtsame Mensch würde beobachten: „Der Topf kocht über.“ PUNKT und „Das finde ich schlecht, denn das bedeutet für mich mehr Arbeit“ oder „Der Kaffe ist reduziert.“ PUNKT und „Das finde ich gut – denn ich mag es Kaffee zu trinken und kann mir so einen Vorrat anlegen.“

Schon in diesen harmlosen Übungen sehen wir: Gewöhnlicherweise neigt unsere normale mentale Aktivität zu einer blitzschnellen Einschätzung der Lage: „Überkochender Topf = schlecht für mich.“ Wenn wir diese Einsicht theoretisieren, dann können wir sagen: Meinungen und Sachverhalte werden bei normaler mentaler Aktivität verklammert zu einem Gedanken: (Meinung|Sachverhalt) bzw. (Schlecht|übersprudelnder Topf). Genau das ist gemeint, wenn von der Vermischung von Meinung und Realität die Rede ist.

Gelebte Achtsamkeit hat zum Ziel: Separiere deine Faktenurteile von deinen Bewertungen. Trenne bewusst zwischen dem Anteil an deinem Denken, der deine persönliche Meinung ist, ab von dem Anteil am deinem Denken, der die Realität meint.

Auf die obigen Beispiele gemünzt: Ich beobachte, das mein Kollege mich wiederholt kritisiert. In mir steigt die Vermutung auf, dass er mich nicht mag. ODER Ich führe mir vor Augen, heute habe ich einen Fehler gemacht. Ich erinnere mich, dass ich letzte Woche wieder einen Fehler gemacht habe. Die Meinung, die in mir aufsteigt ist, dass ich unfähig bin. ODER Ich erkenne an, dass ich nicht berücksichtigt wurde bei der Beförderung. Und ich merke, dass ich befürchte, dass ich nichts wert bin.

Merke: Die Achtsamkeitsübung hilft nur zum Separieren. Sie selbst ist nicht die Lösung. Sie hilft aber zur genaueren Wahrnehmung der Welt, weil wir hier unterscheiden zwischen dem objektiven Anteil unsres Denkens und dem, was aus uns kommt.

Dies ist ein Vorübung. Wer sie beherrscht, wird die Kernlehre des Stoizismus: Die Dichotomie der Kontrolle erfolgreich umsetzten können.

Wer in den alltäglichsten Situationen ernsthaft und mit festen Vorsatz diese Übung der Entklammerung von Meinung und Realität vornimmt wird bemerken, dass er mit fortschreitender Übung eine stetig größer werdenden Zeitraum ruhiger Distanz in seiner Aufmerksamkeit willentlich erhalten kann. Die Affekte werden dadurch an Intensität verlieren.

Einer der größten natürlichen Feinde des Affekts ist das beobachtende Selbst, das ihn aufsteigen sieht. Während der gewöhnlichen mentalen Aktivität ist es der Affekt, der unsere Aufmerksamkeit auf ein Objekt richtet. Durch Achtsamkeit bewirken wir es, dass das beobachtende Selbst die Kontrolle über unsere Aufmerksamkeit bekommt. Der Affekt verblasst dadurch.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Man erreicht durch Selbstbeobachtung eine Distanz zu den Meinungen, welchen man sich üblicherweise überlasst. Die Vermischung oder Verklammerung von Meinung und Realität kann durch Achtsamkeit-Übung aufgebrochen werden. Die so geschaffene Distanz befreit uns vom unmittelbaren Reagieren und durch Übungen werden auch die Affekte, welche durch die Meinung ausgelöst werden, an Kraft verlieren.

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Anmerkungen:

** Das „Handbüchlein der stoischen Moral“ wird zitiert nach: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Epiktet/Handbüchlein+der+stoischen+Moral

**** Aaron Beck, Kognitive Therapie der Depression, Mehrere Auflagen; Donald Robertson: https://donaldrobertson.name/2020/06/28/review-of-the-philosophy-of-cbt-2nd-ed/; Sozialpsychologie: Thorsten Benkel, Signaturen des Realen, Konstanz Universitätsverlag 2007.

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