Im letzten Beitrag nannte ich die Entklammerung von Meinung und Realität eine Vorübung zur eigentlichen Hauptübung. Diese Hauptübung soll in diesem Beitrag das Thema sein. Mit der Hauptübung, die ich meine, beginnt das das Handbüchlein Epiktets **. Lerne dies zu unterscheiden:
Einige Dinge sind in unserer Gewalt, andere nicht. In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist. – Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, kurz: Alles, was nicht unser eigenes Werk ist.
Epiktet, Handbüchlein der Stoischen Moral, i.
Der geneigte Leser möge sich vor Augen führen, dass Epiktet im Jahr 138 starb; seine Zeilen benennen als Beispiele für uns heutige mitunter abwegige Beispiele. Wohlgemerkt: Die Beispiele! Die Lehre als solche kann mit modernen psychotherapeutischen Verfahren konkurrieren (siehe letzten Eintrag). Epiktets Stoizismus ist eine gangbare Lebensphilosophie, welche über die Jahrhunderte verlässlich innere Ruhe, Gelassenheit und Besonnenheit gestiftet hat. Massimo Pigliucci, den ich persönlich sehr schätze, hat in ungezählten Podcasts 2020 den Wert von Epiktets Philosophie herausgehoben. Eines seiner jüngeren Bücher, aus 2020 – englisch: A Field Guide to a Happy Life; deutsch: Gelassen Bleiben mit den Stoikern – nimmt sich vor, Epiktets Lehre auf das Heute zu übertragen.
Den Arbeiten von Pigliucci entnehme ich mitunter die Benennung der Übung, die im obigen Zitat verborgen ist. Pigliucci aber hat sie ebenfalls übernommen: Sie heißt die Dichotomie der Kontrolle. Ich habe schon oft überlegt, ob ich sie nicht deutsch als Zweierlei Kontrolle oder ähnlich anspreche, werde aber weiterhin von Dichotomie reden.
Das Ansinnen der Lebensphilosophie Epiktets ist bekanntlich, dass man lerne unangenehme Affekte wir Sorge, Angst, Frust, Wut und dergleichen zu vermeiden oder zu löschen. Diese Affekte hemmen uns, machen uns handlungsunfähig. Sie führen uns ab vom Weg eines guten, gelingenden Lebens. Die Übung der Dichotomie der Kontrolle ist für Epiktet zum Erreichen dieses Ziels zentral. Er behauptet nämlich das folgende:
Menschen, die das verändern wollen, was sie nicht verändern können, werden Frust, Ärger, Angst oder andere unangenehme Affekte leiden.
Frei nach Epiktet
Hinter dieser Vermutung über die Quellen der Affekte, die uns im Leben hemmen, steht eine theoretische Überlegung: In Bezug auf unseren – das heißt: menschlichen Einflussbereich – teilt sich alles in der ganzen Welt auf in zwei Klassen: In die Klasse von Ereignissen und Prozessen, die wir kontrollieren können; und in die Klasse von Ereignissen und Prozessen, die sich unserer Kontrolle entziehen.
Beispiele für Unkontrollierbares:
Der Wunsch, das Wetter zu kontrollieren, ist kindisch. Ähnlich kindisch wäre der Frust, dass das Wetter sich nicht so verhält, wie man erwartete. Das Wetter entzieht sich unserer Kontrolle. Wir sollten besser überhaupt keine Mühe und Kraft auf das Prognostizieren oder Bewerten von Wetter legen. Unnütz!
Mein eigenen Körper steht letztlich nicht unter meiner Kontrolle. Dass ich mich über mein Altern – welches doch ein Prozess in den Zellen ist, den ich nicht beeinflussen kann – ärgere, fürchte und gar viel meiner Zeit darauf verwende, dies zu übertünchen, das bringt mich nur in Ungleichgewicht und Unruhe.
Der Ärger über den verspäteten Bus ist so als ob ein Kid vor Wut trampelt. Man kann nicht beeinflussen, wie der Verkehr in der Stadt sich gestaltet.
Ob meine Kollegen ausgeschlafen, verkatert, in Gedanken bei ihren Eheproblemen oder sonst wie abgelenkt sind, so dass ihre unkonzentrierte Art mich in meiner Arbeit stört – das kann ich nicht abändern. Die Welt dennoch so zu wünschen, als wäre es nicht so, das ist töricht.
Beispiele für Kontrollierbares:
Meine Geburtstagsfeier entwickelt sich nicht auf die Art und Weise, ich ich erwartet habe. Dem Unmut und Missvergnügen, was über diese Enttäuschung entsteht, kann ich entgegentreten und sie auflösen.
Ich ärgere mich über das Verhalten meiner Mitmenschen im Straßenverkehr. Hier kann ich meine Meinungen über die Menschen revidieren, und damit die Wurzel des Ärgers ausreißen.
Ich rieche guten Kaffee und zähle schon innerlich, ob ich genug Geld dabei habe. Und doch will ich doch früh ins Bett. Dem Kaffeeimpuls kann ich begegnen, ich kann ihn kontrollieren.
Man kann den praktischen Stoizismus nicht besprechen, ohne auf die Dichotomie der Kontrolle zu sprechen zu kommen. Der geneigte Leser möge sich zur Aufgabe setzen, fortan und in der kommenden Zeit immer wieder einmal sich vor Augen zu führen, was kontrollierbar ist und was nicht kontrollierbar ist.
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Anmerkungen:
** Das „Handbüchlein der stoischen Moral“ wird zitiert nach: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Epiktet/Handbüchlein+der+stoischen+Moral