Die Dichotomie der Kontrolle erinnert uns daran, was wir beeinflussen können und was nicht. Die Einübung dieser Unterscheidung ist das wichtigste; wer es nicht beherzigt, der wird niemals den stoischen Gleichmut erwerben.
Zur Erinnerung: In der ganzen Konzeption der stoischen Lebenshilfe übernimmt die Dichotomie der Kontrolle die Rolle einer Kur. Die Einübung soll zu einem Lebenswandel führen. Die „Krankheit,“ die kuriert werden soll, ist das Reagieren mit schlechten Affekten. Diese Affekte hemmen uns im Denken und im Planen. Gleichmütigkeit wird in der stoischen Lebenshilfe aber ein Gemütszustand genannt, der keine dieser Affekte kennt. Zur Gleichgültigkeit gelangen wir durch Einübung der Entklammerung von Meinung und Realität und der Dichotomie der Kontrolle. In anderen Worten: Achtsamkeit und Unterscheidungsfähigkeit sind für den Stoiker – welcher bei uns ja durch Epiktet vertreten wird – Haltungen, die unser Leben wandeln hin zu einer anderen Grundhaltung.
Diese Grundhaltung, welche für den Stoiker bis auf die heutigen Tag sprichwörtlich bezeichnend ist, ist die Ruhe. Diese Ruhe des Gemüts beruht auf Übung und Meditation. Die stoische Ruhe hat auch andere Namen. Manchmal wird sie bezeichnet als „Seelenruhe,“ mal als „Gleichmütigkeit“ und auch als „Unerschütterlichkeit.“ Nicht falsch ist ebenso die Bezeichnung „Gelassenheit,“ in welches das bezaubernde Buch von Dieter Voigt und Sabine Meck [Gelassenheit. Geschichte und Bedeutung. Primus-Verlag 2005. Auch als Hörbuch.] den geneigten Leser einführt.
Für antike Philosophen, mittelalterliche Mystiker und jeden, der von der Kraft der Gelassenheit weiß, ist hier ein Zauber angesprochen, der sich auf die Seele legt. Gelassenheit ist der Schlüssel zu einem bewussteren Leben. Und eben auch Epiktet will seinen Hörern (und Lesern) die Gelassenheit näher bringen. Dazu dient die Dichotomie der Kontrolle. Sie ist die Regeln, an der wir unsere Vorstellungen prüfen sollen.
Das meint: Bei jeder möglichen Gelegenheit: Prüfe, was du kontrollieren kannst. Zum Beispiel: Der Bus kommt zu spät. Was kannst du kontrollieren? Der Aktienwert deiner Einlagen fällt. Was kannst du kontrollieren? Eine Pandemie bricht aus. Was kannst du kontrollieren? und so weiter.
Er das regelmäßig tut, wird irgendwann einen Sinn dafür bekommen, dass – ganz streng genommen – nur die eigenen Reaktionen auf eine Situation in unserer Kontrolle stehen. Wenn wir unser Leben hin zur Gleichmütigkeit verändern wollen, dann müssen wir also unsere Einstellung zur Welt ändern. In der technischen Sprache der Philosophie: Kontrollierbar sind nur unsere Impulse, Wünsche, Erwartungen und Pläne. Zugriff habe ich nur auf die innerlichen Regungen; allein sie kann ich kontrollieren, umschreiben, manipulieren, abändern.
Anerkannt zu werden verdient, dass die Realität so gut wie ohne unsere Kontrolle sich abspielt. Das gilt für das große Ganze wie für den sozialen Nahbereich. So wie ich keinen Einfluss habe auf den Drehimpuls des Planeten so wenig kann ich gegen die Sterblichkeit meines Liebsten unternehmen. Ich muss also lernen hinzunehmen, dass meine Liebsten sterblich sind. Und auch ebenso kann ich nicht unmittelbar etwas daran ändern, wie sich meine Liebsten verhalten. Ich kann nur etwas daran ändern, wie ich mich verhalte.
Epiktet** empfiehlt einen durchgehenden und kontrollierten Einstellungswandel. Seine Philosophie sagt: Falls du eine gelassene und ruhige, ganz ausgeglichene Gemütseinstellung haben willst, darfst du von unkontrollierbaren Ereignissen nur wünschen, dass sie geschehen. Arbeite stets an dieser Haltung zum Leben!
„Verlange nicht, daß die Dinge gehen, wie du es wünschest, sondern wünsche sie so, wie sie gehen, und dein Leben wird ruhig dahin fließen.“
Epiktet, Handbüchlein der Stoischen Moral, VIII
Tust du aber doch einmal so, als ob du Dinge verändern könntest, du du nicht verändern kannst, wünscht du z. B. etwas, was unmöglich ist, dann wirst du notwendigerweise gehemmt. Du wirst Frust, Ärger, Wut empfinden und diese Affekte werden dich einschränken.
Gleichmütigkeit und Unerschütterlichkeit wird derjenige erlangen, welcher sich in der Unverfügbarkeit der Welt einrichtet. Selbst im heutigen Zustande größtmöglicher individueller Freiheit wird die Realität dich beschränken, indem sie deinen Handlungszielen Grenzen setzt, die sich zu deinen subjektiven Absichten, Wünsche, Begierden und Überzeugungen konträr verhalten.
Der Stoiker Chrysipp bringt das geforderte in einem Parabel zum Ausdruck. Sie kann etwas so erzählt werden:
Stelle dir einen Hund vor, der an einen Wagen festgebunden ist, welcher von Ochsen gezogen wird. Wenn der Hund klug ist, läuft er freiwillig und vergnügt mit; wenn er sich aber auf die Hinterbeine setzt und jault, wird er doch mitgeschleift.
Hans. von Arnim, Stoicorum veterum fragmenta, Bd. 2, 2. A., 1921, 975.
Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 21d.
Der Wagen und die Kräfte, die ihn ziehen, stehen für den großen Weltenlauf. Die Reihe der Ereignisse, die kommen werden, ist zu einem Teil vorbestimmt. Der Wagen wird ohne unseren Willen gezogen. Gleich dem Hunde sind wir daran festgebunden. Wenn wir diese Unverfügbarkeit akzeptieren, laufen wir freiwillig mit. Der dumme Hund wird sich weigern und an der Leine ziehen, entgegensetzt der Richtung laufen und sich von ablenken wollen. Er wird dann mitgezogen, jault und leidet.
Innerhalb dieses Arrangements von Realität und ihrer Position darin bleibt aber noch die Möglichkeit, Herrschaft über sich selbst auszuüben. Den Kosmos und alles, was darin existierst, dessen Bewegungen, Zielrichtungen, Motive kannst du nicht beeinflussen. Du kannst bei aller Erdschwere der Existenz aber erfahren lernen, dass du ein Quellpunkt von Veränderung sein kannst.
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Anmerkungen:
** Das „Handbüchlein der stoischen Moral“ wird zitiert nach: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Epiktet/Handbüchlein+der+stoischen+Moral