Wer kann der Dichotomie der Kontrolle nicht zustimmen? Alle Ereignisse und Prozesse sind entweder von der Art, dass wir sie kontrollieren können oder eben nicht. Das ist doch sonnenklar. Auf der rein rationalen Ebene ist diese Erkenntnis, einmal gefasst, ziemlich belanglos. Es ist eben ein Fakt, dass weite Bereiche des Lebens nicht willentlich gesteuert werden können. Das ist wahr, aber irrelevant. Wer die Dichotomie der Kontrolle und die anderen Lehrsätze der stoischen Weisheitslehre als Aussagen über die Welt liest, der ist auf dem Holzweg. Diese Einsichten beanspruchen zwar auch wahr zu sein, das heißt eine Realität in Worte zu fassen, aber darin gehen sie nicht auf.
Diese Philosophie ist vorrangig praktisch, sie will das Handeln und das Selbstverständnis des Handelnden verändern. Die eigentliche Kraft entfaltet die Dichotomie der Kontrolle dementsprechend auch auch nicht in der Argumentation, sondern in der Art und Weise, wie man am Leben teilnimmt und wie man in der Welt steht. Eine praktische Philosophie wie der Stoizismus will nicht das beste Argument, sondern den Lebenswandel.
Sein Leben zu wandeln kann eine Kur sein. Kurativ wirkt es, weil eine Veränderung der Art wie man am Leben teilnimmt und in der Welt steht, Affekte wie Zorn oder Angst vermeiden helfen. Personengruppen, welcher von dieser Kur profitieren können, sind deshalb solche:
- die leicht reizbar sind,
- deren Denken von Angst besetzt ist,
- die sich von ihren starken Erwartungen leiten lassen,
- die oft auf ihr Bachgefühl hören und dann doch reinfallen,
- die oft in Zorn geraten (gleich ob über vergangenes Unrecht, gegenwärtiges oder zukünftiges),
- die unversöhnlich sind, Groll empfinden, Rache nehmen wollen.
Was die Kur verspricht ist ein Wandel im Verhältnis zum Selbst und zur Welt sowie ein hemmungsfreies Denken und eine Gelassenheit als Grundstimmung.
Praktische Philosophien wie der Stoizismus entfalten ihre Mächtigkeit erst dann, wenn man nach ihnen lebt. Das unterscheidet sich von chemischen Kuren, also z. B. von der Einnahme von Substanzen. Ihre Wirkung entfalten sie nicht unmittelbar, sondern sukzessive. Der Grund dafür ist, dass man ihre Lehrsätze einüben muss. Übung bedeutet, dass jede alltägliche Situation potentiell genutzt werden kann als Bewährungsprobe.
Praktische Philosophien wie der Stoizismus als Lebensphilosophien sind erst dann ganz mit Leben gefüllt, wenn sie die fortwährende subjektive Zustimmung bekommen. Sie leben vom Entschluss. Dieser Entschluss kommt von unserer je eignen Existenz her. Die Wahl, die wir treffen, liegt begründet in unserer Spontaneität, an dem Punkt unseres Wesens, wo ich „Ich“ sage. Der Entschluss, einer Lehre zu folgen, ist ein privater Moment. Dieser Moment kann niemals Teil der Weisheitslehre sein. Es ist das Moment der individuellen Folgschaft, das sich freiwillig ergeben muss. Sich für den Stoizismus zu entschließen, bedeutet in erster Linie: Unablässig darauf acht zu geben, seine eigene Reaktionen auf ein Ereignis zu kontrollieren. Es bedeutet auch, bei Rückschlägen den Mut zu haben, den Fehler in seinem Verhalten zu suchen und den Vorsatz zu erneuern.
Der geneigte Leser möge also bedenken, dass ein Wandel ihm gut tun könne. Prinzipiell ist jeder in der Lage, diesen Wandel zu vollziehen. (Ein Mindestalter ist 16.) Der Weg dahin ist die Einübung der Lehre. Beim Einüben wird der, der Fortschritte machen will, auf sich selbst zurückgeworfen werden: Er/Sie wird sich selbst und sein/ihr Verhältnis zur ganzen übrigen Welt bedenken, ganz ohne Selbstschmeichelei und Wünsche. Mittels Achtsamkeit und Selbstkontrolle wird er/sie einen Wesenswandel herbeiführen. Der Lohn ist Selbstmächtigkeit und Gelassenheit.