Epiktets Dichotomie der Kontrolle will gelebt werden. In vorherigen Beiträgen des Blogs wurde herausgestellt, dass sich das Einüben dieser Einsicht in zwei Pfade teilt: Der erste Pfad führt auf das Feld des Unverfügbaren hin. Der zweite lässt die Begegnung mit dem Verfügbaren zu. Was ist verfügbar? Im Handbüchlein** heißt es:
In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist.
Epiktet, Handbüchlein der Stoischen Moral, I.
Der geneigte Leser mache sich klar, dass der schnelle Blick auf das knapp 2000jährige Textzeugnis leider nicht genügt, um den Sinn aufzufassen. Die Sprache der Übersetzung, die deutschen Wörter sind ja selbst noch erläuterungsbedürftig. Deshalb soll es der Reihe nach gehen.
1. Behauptung: Unsere Meinung ist unser Werk, sie ist in unserer Gewalt. In einem anderen Beitrag wurde bereits die Entklammerung von Meinung und Realität als Übung erläutert. Mit Meinung bezeichnet Epiktet den mentalen Zugriff auf die Realität. Eine Meinung ist ein Annehmen und Auffassen. Wir sagen dann: Ich glaube dies oder das, oder ich halte dies oder das für richtig oder falsch. – Überzeugte Skeptiker geben ein gutes Beispiel für Menschen, die gelernt haben, ihre Meinungen zu kontrollieren. Die Grundhaltung des Skeptikers ist zunächst: Enthaltung. Ich enthalte mich der Meinung bedeutet so viel wie: ich könnte zwar losschießen und allerlei persönliche Ansichten, Annahmen und Wertschätzungen über dies oder das aussprechen, aber ich unterstehe mich. Diese Hemmung dagegen, sofort eine Meinung abzugeben, das Sich-Zurückhalten, hierin sind wir frei. „Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben.“ und „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ nennen als Redewendungen dieses willentliche Zurückhalten.
2. Behauptung: Unser Trieb ist unser Werk, er ist in unserer Gewalt. Der geneigte Lese möge das Wort „Trieb“ hier nicht wörtlich nehmen. Ein Trieb wie der Überlebenstrieb oder der Geschlechtstrieb sind gewaltige blinde Kräfte, die Ausbrechen können wie ein Vulkan; auch sie können kontrolliert werden. Aber: Das ist nicht das, was Epiktet meint. Erstens, Epiktet kennt natürlich nicht die Psychoanalyse. Sigmund Freuds Werk hat das Wort „Trieb“ unserer Sprache wesentlich beeinflusst.
Epiktet meint ein treibendes Moment im gedanklichen Zugriff, der Antrieb der mit dem Denken verbunden ist, den Impuls. Andere Übersetzungen derselben Stelle sprechen von „Antrieb zum Handeln“ [Übersetzung Steimann, Reclam-Verlag] oder „Handeln Wollen“ [Übersetzung Rainer Nickel, Tusculum-Verlag]. In der Literatur erklärt der Experte Maximilian Forschner: „Wird etwas als für mich erstrebenswert beurteilt, so ist diese Urteil von einem Handlungsimpuls begleitet.“ [M. Forschner, Die Stoische Ethik, Stuttgart 1981, S. 116.].
Gemeint ist der natürliche Zusammenhang zwischen Gut-Finden und Greifen. Ich erkläre meinen Schülern gerne, dass das unser Säugetier-Erbe ist. Wenn wir etwas Süßes sehen, greifen wir gerne zu; Süßes erkennen wir als gut; das Gute müssen wir verzehren. Einüben kann man die Kontrolle dieses Impulses vor der Süßigkeitenschale. Man geht vorüber und spürt den Impuls aufkommen, dann hält man es für einen Moment aus und sagt sich: „Nachher gibt es Essen, ich würde mir den Appetit verderben.“ oder „Ich muss auf mein Gewicht acht geben.“
Impulskontrolle und Selbststeuerung werden hier am augenfälligsten.
3. Behauptung: Unser Begehren ist unser Werk, es ist in unserer Gewalt. Jeder kennt es: Das, was einmal begehrt wurde, verliert seinen Wert. Ich persönlich habe zu viele Sakkos im Schrank hängen. Alle habe ich zu einer Zeit begehrt. Begehren ist Haben-Wollen, Herbeiwünschen, Besitzen-Wollen. Die Mäßigung des Begehrens, die man in jeder Weisheitslehre erwähnt findet, wird bei Epiktet ergänzt um den Hinweis: Du kannst dein Begehren zügeln, dämpfen, herunterfahren und aussetzen. Das Handbüchlein Epiktets wurde über Jahrhunderte in Mönchskreisen als Übungsbuch benutzt: Besitzlosigkeit als Ideal übt sich natürlich im Aussetzen oder Drosseln der Wünsche. Diese Haltung sich selbst gegenüber ist frei. Prüfen Sie es!
4. Behauptung: Unser Widerwille ist unser Werk, er ist in unserer Gewalt. Gemeint ist hier die Vermeidung von Unlust, Schmach und Ungemach. Im normalen Gang der Dinge werden wir in unseren Alltagsentscheidungen vom Lustprinzip gegängelt, unsere Neigung ist es, der Bequemlichkeit zu frönen und den leichten Weg zu suchen. Daher Meiden wir starke Anstrengungen, vermeintliche Lasten und Pflichten. Dieser Widerwille gegen dies oder das, das ist hier gemeint. Ich persönlich ziehe – als Beispiel unter vielen anderen – das Fensterputzen immer weit hinaus. Aber auch hier gilt: Unser Meiden, unserer widerwilliges Verhalten ist ganz und gar in unserer Hand.
Zusammenfassend lehrt uns Epiktet also: Persönliche Ansichten, Handlungsimpulse, Besitzstreben und Vermeidungsverhalten sind in unserer Kontrolle. Bedenkt man weiter, dass in Bezug auf alles in der Welt die Trennung in kontrollfähig und unverfügbar macht, dann sagt Epiktet eigentlich: Nur diese Bereiche liegen in unserer Kontrolle. Über anderes sonst haben wir eben gar keine Kontrolle.
Persönliche Ansichten können abgeändert werden; Handlungsimpulse können gesteuert werden; Besitzstreben kann gelenkt und gezügelt werden; und Vermeidungsverhalten kann aufgelöst werden. Mit anderen Worten: Epiktet fordert uns heraus zur Arbeit an uns selbst. Nicht die Welt soll uns bekümmern, sondern unser Innerliches, unsere Handlungsziele, die Art und Weise wie wir mit beiden Beinen in der Welt stehen.
** Der Titel des schmalen Bändchens variiert mit der Übersetzung. Die online-Version von zeno.org heißt z. B. „Handbüchlein der stoischen Moral,“ http://www.zeno.org/Philosophie/M/Epiktet/Handbüchlein+der+stoischen+Moral