Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich meine, eines der besten Sachen, die ein Mensch im Leben machen kann, ist, seinen Charakter selbst zu bilden. Dafür muss er sich anstrengen, am Ball bleiben und Tugend anstreben. Tugend kann man aber nicht als Individualist anstreben; sie macht dich nicht einzigartig. Die Tugenden werden geehrt in Büchern, sie sind wegen ihres Werts eingegangen in Moralkodizes, sie waren Fundamente der Moralerziehung. Mit anderen Worten: Tugenden sind traditionell. Sie gelten in bestimmten Kreisen deshalb wenig. Der Erwerb von Tugend wird allzuschnell mit Züchtigung, Abtötung, Selbstzerknirschung, Rigorismus assoziiert. Schon der Klang des Wortes löst Irritation aus. Oft stoße ich deshalb auf verschlossene Türen, wenn ich für den Wert von Tugendentwicklung einstehe.
ÜBER DIE ABSCHÄTZIGKEIT
Es ist eigenartig, denn schließlich blickt die Tugendethik auf 2500 Jahre Tradition zurück. Sie gehört zur Erbmasse der Ethik; sie verstaubt aber zusehends. Dass sie gerechtfertigterweise mit einem Schlage – vom Blick der Menschheitsgeschichte aus betrachtet – aus dem Bereich der sinnvollen und effektiven Kulturtechniken verbannt sein sollte, erscheint mir aber ausgeschlossen.
Man muss sich aber dem Sachverhalt stellen, dass Tugendethik unzeitgemäß ist. Sie passt nicht in die stark verbreitete Kultur des Genießens, der Erlaubnis und des Eigensinns. Im Beitrag vom 3. Mai („Tugend traut man den Menschen nicht mehr zu“) wurde dieser Umstand vertieft mit Sloterdijks Beobachtung, dass der Trend in unserer Kultur zur Außensteuerung geht. Tugendethik ist aber – von Sokrates an – eine Technik der Selbstkontrolle, eine Selbststeuerung. Warum dieser Epochenwechsel von Innensteuerung zu Außensteuerung? Warum diese stillschweigende Übereinkunft unter den Menschen, dass Tugend schlecht sei? Woher der Trend in den Agenturen (Schulen, Familien, Fernsehen, Pop-Kultur-Industrie), die sich ermächtigen, die kulturelle und sittliche Interpretionshoheit zu nehmen? Sind die Pädagogen dran Schuld? Ist es ein Ausfluss des prole-drifts (der Proleten-Werdung)?
Ich meine, die Abtretung dieses Erbes, die starke Abneigung gegen diese Tradition hat etwas mit der kulturgeschichtlichen Prägung zu tun, die sich in den letzten 70 Jahren abgespielt hat. Irgendwo in diesem Zeitraum wird die Antwort liegen. Ich will aber nicht gleich alles auf die 1968er schieben. Schon davor hat der Wandel stattgefunden. Und so gewichtig, wie es die noch Lebenden 68er es gerne verkaufen, waren die Ereignisse nicht. Es hat auch etwas damit zu tun, dass die säkulare Massenkultur aus den USA nach der Befreiung weite Teile der Kulturdeutungsmaschine übernahm: Publikationen, Rundfunk, Lehrstühle, Pop-Kultur. Man darf nicht vergessen, dass die Pop-Kultur aus den USA (welche dort selbst nicht die einzige ist), sich aus der kontinentalen Kultur entwickelte. Durch diese Verwandtschaft könnte es bewirkt worden sein, dass ein drastischer Wechsel in der deutschen und mitteleuropäischen Kultur bewirkt wurde. Das alles ist nur öffentliche Mutmaßung, sozusagen Spekulieren vor Publikum. Jedenfalls ist es Fakt, dass der Argwohn gegen die Tugendethik existiert. Probieren Sie es selbst: Reden Sie mit Bekannten und Fremden über Tugend und beobachten Sie die Reaktion. Und arbeiten Sie mit an der Beantwortung der Frage!
ÜBER DEN WERT
Die Philosophie der Tugendethik – jedenfalls die der Stoiker – kann man etwa so zusammenfassen: Kultiviert man diese Selbststeuerung, dann gewinnt man Kontrolle über seine Affekte. -> Die Kontrolle über die Affekte bringt Gelassenheit. -> Gelassenheit bringt Entscheidungsfähigkeit und Selbstmächtigkeit. -> Entscheidungsfähige und Selbstmächtige Menschen stehen mit beiden Beinen auf der Erde.
Für die antiken Tugendethiken stand nicht das Gute Benehmen als Endziel ihrer Tugendlehre (ich greife hier ein Vorurteil auf), sondern das Gute Leben. Sie entwickelten dazu Techniken der Lebenskunst und der Charakterbildung, welche möglichst situationsinvariant waren, d. h. möglichst auf jede Situation im Leben passen. Selbstkontrolle als Zentralthema der Tugendethik ist in diesem Sinne eine wünschenswerte Eigenschaft; verwirklichen wir sie in unserem Charakter, dann sind wir für jeden Weg im Leben gewappnet.
Diese Philosophie teile ich. Das macht mich zwar unzeitgemäß. Aber ich weiß aus den alten Bücher, dass Menschen sich mit ihren Urteilen über die Zeitgemäßheit irren, weshalb ich mir darum keine Sorgen mache.