Zur Erinnerung: Der Philosoph Epiktet möchte uns mit der Übung der Dichotomie der Kontrolle einprägen, dass wir an unsere Meinungen, Wertschätzungen, das Handeln-Wollen, unsere Impulse, unser Begehren und Herbei-Wünschen und unser Vermeiden prinzipiell unter Kontrolle haben. In Kontrast steht dies zur Unverfügbakeit der Prozesse und der Ereignisse, die sich selbst-organisierend über unseren Kopf hinweg in der Welt vollziehen. Unerschütterlich ist jemand, der dieses Vollziehen anerkennt ohne darin eingreifen zu wollen. Mutig ist der, der in sich selbst einen Wandel herbeiführt. Weise wird, wer das eine vom anderen unterscheiden kann. (Die letzten Beiträge im Blog handelten hiervon.)
Kontrolle über uns. Das ist es, was ein gebildeter Mensch erzielen muss. Zur Erinnerung: Bildung heißt hier nicht Bücherwissen, nicht Kompetenzen für den Arbeitsmarkt, sondern: Aus dem Grundstoff seiner Natur etwas geformt haben, mittels Streben, Anstrengung, Übung. So wie man aus Ton ein Gefäß bildet, so bildet sich der Mensch aus.
Kontrolle über sich haben, das war über sehr lange Zeit ein Wert an sich. Studieren wir die antiken Lebensphilosophien und die Techniken der Seelenführung, die diesen antike Techniken im christlichen Abendland aufgenommen und bewahrt haben, so sehen wir das Ziel der Übung im Ersteben eines Gemütszustands. Dieser Gemütszustand wird als Gemütsruhe (Plutarch), Gelassenheit, Unerschütterlichkeit, Gleichmut (tranquilitas, Seneca) oder griechisch: Ataraxie, Galene/Meeresruhe (Epikur) bezeichnet. Dieser Zustand ist aber immer die Folge von Übungen in Selbstkontrolle. Ich meine: Wir verstehen die alten Weisheitslehren besser, wenn wir bei der Selbstkontrolle ansetzen.
Im letzten Beitrag (vom 17.5.) habe ich die Beobachtung Sloterdijks wiederholt, dass Selbstkontrolle heutzutage von Außenkontrolle übernommen wird. Anstatt selbsttätig an den Schlaf zu denken – Schlaff-Apps, anstatt ins sich Ruhe einkehren zu lassen – Entspannungs-Audio, anstatt über die Zubereitung von Speisen zu sinnen – Fertiggerichte aller Art, von Außen – aus dem Kalender, dem Smartphone, dem Computer, von den Autoritäten, vom Markt diktiert, von der Politik beschlossen usf. – von Außen lassen wir uns steuern. Sloterdijk geht soweit, dass er sagt (sinngemäß): ‚Warum reden wir heute nicht mehr über Tugend? Weil man den Menschen Tugend nicht mehr zutraut. In moralischen Sachen reden alle nur noch über Werte. Etwa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Werte haben die Tugenden ersetzt.‘ Nun sind Werte aber auch ein Äußeres, Tugenden indes sind verinnerlichte Werte. Traut man den Menschen keine Tugenden zu, dann werden die Werte, denen zu folgen ist, beliebig.
Eigensteuerung bedarf eines Zentrums, einer starken Persönlichkeit. Im Anschluss an den Arzt und Schriftsteller Joachim Bauer verstehe ich unter Selbststeuerung ‚das im Dienste umfassender Selbstfürsorge stehende Bemühen um eine Balance zwischen Selbstkontrolle und angemessener Berücksichtigung der Triebwünsche‘ [Joachim Bauer, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, Blessing-Verlag, 3. Aufl., 2015.] Sich selbst steuern können ist Teil der Selbstfürsorge deshalb, weil dies unserem Lebensglück und unserer seelischen Gesundheit dienlich ist. Es einzuüben lässt entdecken, dass wir selbst einen Wandel herbeiführen können, es lässt uns Verantwortung für uns zurückgewinnen und schafft einen gesunden Blick auf die Zukunft (kein schlechtes Zukunftsdenken mehr!).
Im nächsten Beitrag werde ich die Selbstkontrolle vertiefen. Ich möchte zusammenfassen, dass diese Fähigkeit im Zentrum aller Charakterbildung steht. Jede Tugendethik, welche den Prozess der Ausbildung, die Übung und die Hemmungen auf dem Weg zur Tugend thematisiert, wird mit der Selbststeuerung konfrontiert. Das Philosophieren darüber führt uns auf unsere ganz eigene Existenz zurück und lässt uns erahnen, wozu wir fähig sind.