Die letzten Beiträge zur Selbstkontrolle sollten einen Sinn für die stoische Lebensphilosophie vermitteln. Selbstkontrolle war für Stoiker eine der wertvollsten Haben, die man sich im Leben erarbeiten kann. Stoische Charakterbildung, stoische moralische Erziehung und stoische spirituelle Übung hat Selbststeuerung zum hohen Ziel. Denn, so sagt es die Klugheit, wer sich kontrollieren kann, der ist für alle möglichen zukünftigen Fälle zugerüstet. Der Kontrollierte wird ein gelingendes Leben führen.
So wie alle lebensphilosophischen Schulen beruft sich auch die stoische auf Sokrates. Dessen Lieblingsthema beim Philosophieren war: Was ist das beste, das der Mensch aus sich machen kann? – Die Stoiker antworten darauf mit stolzer Brust: Sich selber kennen und sich kontrollieren. Warum das denn so sei? Weil es von Vollkommenheit zeugt, dass wir leben, wie es unserer Natur entspricht. Der Mensch hat die Pflicht, seine natürlichen Anlagen zu entwickeln.
Diesen für die stoische Lebensart zentralen Gedanken will ich hier erläutern. Es wird sich herausstellen, dass er auch heute noch sinnvoll in ein philosophisches Leben eingegliedert werden kann. Stichwortartig hat sich diese alte Lehre erhalten in dem Spruch: „In Übereinstimmung mit der Natur leben – das ist die vollkommenste Art zu leben.“
Die Gründer der Stoa: Zenon, Kleanthes, Chrysipp
Massimo Pigliucci, ein zeitgenössischer Lehrer des Stoizismus, leitet seine Ausführung zu diesem Thema immer ein mit dem Witz von den Hippies: In Übereinstimmung mit der Natur leben, bedeutet nicht nackt in den Wald gehen und Bäume umarmen. Das ist völlig in Ordnung, aber nicht die Praxis nach stoischer Lehre.
In Übereinstimmung mit der Natur leben – dieser Wahlspruch für die stoische Lebensart – führt zurück auf die ersten Stoiker in Athen. Der Gründer der Stoa, Zenon von Kition, hat gelehrt: „Einstimmig sollst du leben.“ Er meint damit: Du sollst mit deinem Wesen übereinstimmen; vollziehe keine Tätigkeiten, die deinem Weisen widersprechen.
„Einstimmig sollst du leben.“
Zenon von Kition
Wohlgemerkt: Für den Stoiker geht es um das Praktische: Wie bringen wir Worte und Taten zusammen? Wie Bedürfnisse und Befriedigung? Wie Wünsche und Handlungen? Wie werden aus bloßen Plänen und Vorhaben Verdienste und Erfolge? – Zenons Antwort ist grundlegend: Widerspreche bei allem, was du tust, niemals Dir selbst.
„Mit der Natur einstimmig sollst du leben.“
Kleanthes von Assos
Man kann sich vorstellen, dass diese sehr allgemeine Weisheitslehre viele Diskussionen über ihre Anwendung erzeugt hat. Kleanthes von Assos, der Nachfolger Zenons als Leiter der Schule, hat die Formel ergänzt zu: „Mit der Natur einstimmig sollst du leben.“
Die Natur ist im philosophischen Verständnis, das, was von sich aus existiert. Die Philosophen reden auch von der Natur eines Einzeldings. Mit der Natur von etwas ist immer gemeint, wie etwas gewachsen ist, von was von einer (natürlichen) Art es ist, seine (natürliche) Beschaffenheit, sein Wesen.
„Lebe einstimmig mit dir selbst und dem Universum, dann erreichst du Einstimmigkeit mit der Natur.“
Chrysippos von Soloi
Chrysippos von Soloi, der Nachfolger von Kleanthes, erklärt denn auch ferner: „Mit der Natur einstimmig soll man leben. Das bedeutet: Einstimmig mit sich und mit dem Universum.“
Mit anderen Worten: Die genannten Gründer der Stoa fordern uns auf zu prüfen, ob unsere Wünsche, Begierde, Pläne, Impulse usw. übereinstimmen mit unserer Natur und dem Universum. Den Maßstab für Richtig und Falsch entnimmt die stoische Lehre der Natur.
Was es für uns noch bedeuten kann
Wenn Sie, geneigter Leser, bis hierhin noch nicht ausgestiegen sind, möchte ich Ihnen gerne erläutern, was das zu bedeutet hat.
Das Anraten der Philosophen, man solle auf seine Übereinstimmung mit der Natur acht haben, bedeutet dreierlei:
EINS.
Lebe in Übereinstimmung mit der Allnatur,
das ist das Universum.
ZWEI.
Lebe in Übereinstimmung mit der Natur des Menschen,
das ist die Art von Lebewesen,
die du bist.
DREI.
Lebe in Übereinstimmung mit deiner individuellen
Natur, das ist dein persönliches Temperament.
Die erste Bedeutung erklärt
In der ersten Bedeutung verbirgt sich ein Gedanke, der heute nicht mehr gedacht wird: Das Universum ist ein lebendiges Wesen. Für die stoische Philosophie bedeutet in Übereinstimmung mit der Allnatur zu leben, dass man sich in den lebendigen Kosmos freiwillig eingliedert. Praktisch bedeutet das, dass man will, was geschieht (Wolle, was geschieht!). In meinem Beitrag am 14. Mai 2021 (Über das Unverfügbare) habe ich Chrysipps Lehrrede vom kosmischen Wagen erzählt:
Stelle dir einen Hund vor, der an einen Wagen festgebunden ist, welcher von Ochsen gezogen wird. Wenn der Hund klug ist, läuft er freiwillig und vergnügt mit; wenn er sich aber auf die Hinterbeine setzt und jault, wird er doch mitgeschleift. **
Auch wir Menschen sind an diesen Karren angebunden. Der Karren ist der Lauf der Dinge. Das Universum entwickelt sich in eine bestimmte Richtung. Die Laufrichtung des Karrens können wir nicht beeinflussen. Dumm ist der Köter, der sich in seinem Eigensinn und seiner Begierde weigert diesem Karren zu folgen. Er widersetzt sich den kosmischen Bändern, mit denen wir an den Karren gebunden sind. Das Ergebnis ist, dass dieser Köter unglücklich lebt. Anstatt zu wünschen, dass das geschehe, was geschieht, wünscht dieser Köter sich, dass sich dir Natur seinen Wünschen unterordne. Dies ist die Weisheit: Wünsche, dass geschehe, was vorbestimmt ist. Der Kosmos ist umverfügbar, versuche nicht ihn mit deinen Wünschen zu manipulieren. Dabei wirst du bloß scheitern.
„Verlange nicht, daß die Dinge gehen, wie du es wünschest, sondern wünsche sie so, wie sie gehen, und dein Leben wird ruhig dahin fließen.“
Epiktet, Handbüchlein der Stoischen Moral, VIII ****
Der Philosoph Epiktet wird sich Jahrhunderte danach auf diese Weisheit beziehen. Er spricht von einem Fuß, der auch mal durch den Schlamm gehen muss, um den Körper nach Hause zu tragen. Wäre es nicht eine Dummheit, wenn der Fuß sich beklagen würden darüber, dass er sich dreckig macht? Nein, weil der Fuß weiß, dass sein Werk dem höheren Zweck dient, den Körper nach Hause zu befördern, macht der Fuß auch das dreckige Geschäft gerne. So müsse der Mensch leben: Wissen, dass er in seiner Kleinheit auch mal dreckiges und unerfreuliches machen muss, damit das Größere (die Allnatur) gedeiht. – Wie gesagt: Diese Selbsterniedrigung unter ein vorbestimmtes Ziel des Kosmos, dieser Fatalismus des Hinnehmens von dem, was vom Kosmos vorgesehen ist usw. – dies ist der Teil der stoischen Lehre, der bei uns (zumindest bei den Menschen, die ich so kenne, und im allgemein im liberalen modernen aufgeklärten Abendland) kein Applaus mehr zusteht.
Die zweite Bedeutung erklärt
Es ist von allen Wesen allein der Mensch, der seine Situation, seine Stellung zur Allnatur und seine Position in der Allnatur durchschauen kann. Die Stoiker thematisierten den Menschen so, wo nahezu jede Philosophie. Der Mensch ist innerhalb des großen kosmischen Bands ein sehr spezieller Fall. „Im Menschen schlägt die Natur ein Auge auf,“ sagten die Deutschen Romantiker. „Das Tier ist am Pflog der Gegenwart angeschlagen, der Mensch lebt in Zukunft,“ sagt Friedrich Nietzsche. „Der Mensch ist die Krone der Schöpfung,“ sagt die jüdische Tradition.
Es ist ja unstrittig, dass wir Menschen andere Arten von Lebewesen kennen, die so sind wie wir. Wir kennen ähnliche Wesen, die Affen. Aber ich meine Wesen, die genau so sind wie wird.
Über Jahrhunderte war es unter philosophischen Logikern Sport die Einzigartigkeit des Menschen zu definieren. Dabei machte man Anwendung von der Definitionstechnik, die der Philosoph Aristoteles ins Leben rief: „Gib zur Definition die Gattung an, zu der das, was du definieren willst, gehört, und nenne die spezifische Differenz zu anderen Arten dieser Gattung.“ Ein Pudel ist z. B. ein Hund (Gattung) mit lockigem Haar. Das gelockte Haar ist die spezifische Differenz der Hundert Pudel, die alle Exemplare von Pudel gemeinsam haben, und die eben nur und ausschließlich Pudel habe.
Erkenne, was für eine Art von Lebewesen du bist, dann kannst du ein naturgemäßes Leben führen.
Beispiele für die Definition von Menschen sind lehrreich: Der Mensch ist das Lebewesen, das tanzt. (Interessant, aber durch tanzende Vögel widerlegt). Der Mensch ist das Lebewesen, das lacht. (Wieder die Vögel, genauer: Krähenvögel.) Der Mensch ist das Lebewesen, das sich seine Nahrung selber anbaut. (bisher unwiederlegt). usw.
Die letzte Definition kommt übrigens aus der Tradition um Karl Marx. Für die Stoiker jedenfalls war nicht nur Aristoteles‘ Methode der Definition verbindlich, sondern auch seine zwei Antworten: „Der Mensch ist das vernunftbegabte Lebewesen.“ (griechisch: „zoon logon echon,“ lateinisch: „animal rationale“) und „Der Mensch ist das politische Lebewesen.“ („zoon politicon“, „animal politicum“).
Beide Definitionen geben die Natur des Menschen an – damit sind wir beim Punkt.
Die Weisheitslehre: „Lebe in Übereinstimmung mit der Art von Lebewesen, die du bist – mit deiner Natur.“ bedeutet das: Lebe als vernünftiges und politisches Lebewesen. Denn das ist es, was wir sind.
Die Weisheitslehre der Stoiker sagt dementsprechend auch so etwas wie: Lebe ein bewusstes Leben. Ein Leben leben, das bewusst ist, bedeutet zu wissen wie und worin man lebt:
Wir leben in diesem Universum – in keinem anderen. Wir leben so, wie es uns unsere Natur zulässt: Wir sind Stoffwechselwesen, die sich durch Paarung vermehren und für gewöhnlich in großen Gruppen leben. Zudem haben wir aufgrund unserer Natur endlose Handlungsmöglichkeiten; in keinen Lebensraum sind wir eingepasst. Allein die Rationalität hilft uns dabei, ein Leben zu führen.
Lebe in Übereinstimmung mit deiner Natur =
Lebe als vernünftiges und politisches Lebewesen =
Führe ein selbstgesteuertes und gemeinschaftsförderndes Leben
Vernunft zu haben, bedeutet immer auch sich selbst steuern zu können. Ein Leben zu leben, das ein vernunftgemäßes Leben ist, eines, welcher unserer Natur entspricht, bedeutet dann: Schaffe in dir eine Selbststeuerung.
Exkurs über die Steuerung von Affekten
Die stoische Lebensphilosophie kommt in ihren zentralen Gedanken – wir nahezu all antike Lebensphilosophie – auf die Kontrolle der Affekte zu sprechen.
In der Philosophie verstehen wir unter einem Affekt eine heftige seelische Erregung. Manchmal wird dies auch Leidenschaft genannt. Im Englischen nennt man sie treffend passions; wer mal Latein hatte, der liest hier passio (leiden, etwas erleiden). Affekte als Passionen anzusprechen ist treffend, weil hier ihre parasitäre Art angesprochen wird. In der Philosophie nennt man Leiden nämlich den Zustand der Passivität gegen etwas, welcher uns einschränkt. Wir leiden unter Affekten in dem Sinne, dass unser klares Denken in dem Moment abgestumpft und verdunkelt wird, wo wir uns im affektiven Zustand befinden. (Ein weiterer Fall von Missverständnis zwischen philosophischer Fachsprache und normaler Sprache; leiden bedeutet nicht Schmerzen haben.)
Auch psychische Leiden kann man so auffassen. An Affekten leiden bedeutet dann, dass man sich über die Affekte vergisst, dass die Affekte das Denken einschränken, dass der Affekt das Denken blockiert, hemmt oder ähnliches.
Verbreitete Affekte sind Ängste und Sorgen. Dazu gehören: Zukunftssorgen, Verlustängste, Todesangst, Angst vor Strafe und Vertreibung. An diesen Beispielen kann man gut studieren, was die antiken Lebensphilosophen meinten, wenn sie den Affekt als etwas ansehen, an dem unser Verstand leidet. Angst und Sorge blockieren vom Moment des Auftretens an das klare Denken und stören das innerliche Gleichgewicht. Sie beunruhigen den Menschen, weil sie bewirken, dass man nur in Angstphantasien lebt. In diesen Vorstellungssequenzen ragen vage Schatten des Ängstigenden über dem Gemüt. Das hemmt uns darin, Handlungsoptionen zu entwerfen. Ängste hemmen uns Menschen in unserer Entfaltung und verschließen den Weg zur Heiterkeit.
Zu den Affekten zählen nicht nur Sorge und Angst. Auch andere Gemütslagen und seelische Erregungen ziehen unser klares Denken typischerweise in den Bann ziehen und wirken sich so negativ auf unsere seelische Gesundheit auswirken. Zu den bekanntesten zählen übermäßiger Zorn, Bitterkeit, Groll, überwältigende Zustände von Furcht, heftige Liebe, Eifersucht, Sehsucht, Neid oder übersteigerte Freude.
Für die stoische Schule ist klar: Affekten darf man sich zum Wohle der seelischen Gesundheit nicht hingeben. Ausnahmen machten sie für Liebe und Hingabe. Denn es entspräche unserer Natur in Gruppen zu leben. Liebe und Hingabe sind für das Gruppenleben dienliche Affekte, denen wir uns getrost überlassen dürfen. Exkurs Ende. |
Die dritte Bedeutung erklärt
Lebe in Übereinstimmung mit deinem Temperament ist eine Erinnerung an die alte Weisheit: „Erkenne dich selbst.“
Mache dich vertraut mit deinem persönlichen Wesen.
In der antiken Welt unterschied man vier Typen von Temperament. Sie sind sehr schön in einer Geschichte erklärt, in der jeder von ihnen einen Spaziergang machen soll und auf seinem Weg einen großen Stein als Hindernis vorfindet. Der Sanguiniker springt lebhaft über den Stein hinweg und wandert munter weiter. Der Choleriker gerät in Wut und Zorn, weil er sich wieder einmal bei seinen Plänen gestört fühlt. Er schleudert den Stein beiseite und hat für längere Zeit seine gute Laune verloren. Der Melancholiker bleibt vor dem Stein stehen, und verfällt auf traurige Gedanken, die sich dahingehend verdichten, dass in seinem Leben noch niemals etwas reibungslos verlaufen ist. Er gibt sich der Trübsal hin und setzt sich bekümmert an den Rand des Weges. Der Phlegmatiker fand schon zu Hause das Aufstehen und Weggehen mühsam. Beim Anblick des Steines wird ihm alles zu viel. Er kehrt in seine Wohnung zurück, um sich wieder ins gemütliche Bett zu legen.
Auch heute unterscheiden wir Persönlichkeitszüge, die wir durch Geburt mitbringen. Das Standard-Modell der Psychologie ist die Big-Five-Persönlichkeitsskala. Sie unterscheidet fünf Dimensionen, die jeweils zwei Ausprägungen (stark und schwach) haben (siehe das schöne Schaubild, das die Redaktion von geo.de zum Thema in Auftrag gegeben hat; herzlichen Dank!).

Der lebenspraktische Rat der stoischen Philosophie lautet diesbezüglich: Mache Dich mit deinem Wesen vertraut. Denn dann weißt, du in welche Fallen du gerätst, was deine Schwachstellen sind, was deine Stärken sind, was du besonders gut kannst.
Der von mir sehr geschätzte Jordan Peterson hat eine online-Testversion des Persönlichkeitstests: Understandmyself. Es gibt sie nur auf Englisch. Es ist kostenpflichtig. Getestet wird deine Ausprägung auf der Big-Five-Skala. Zudem erhältst du zu deinem Ergebnis Rat darüber, welche Stärken Menschen mit deiner Persöslichkeitsausprägung typischerweise haben und in welche Gefahren und Fallen sie typischerweise geraten. – Die Ruhr Universität Bochum (RUB) und andere deutschsprachige Anbieter haben auch Portale zum Persönlichkeitstest; es gibt aber keine Ratschläge hinterher.
Chrysipp und die Stoiker der Antike jedenfalls wussten es auch: Erkenne dich selbst, erst dann kannst du dich beherrschen.
Zusammenfassung
In Übereinstimmung leben mit der Natur hat drei Bedeutungen. Eins: Ordne dich ein in das, was geschieht. Zwei: Lebe ein überlegtes, vernünftiges Leben und ein Leben, das die Gruppe, in der du lebst, nach vorne bringt. Drei: Erkenne deine Schwächen und Stärken.
Die Bedeutungen zwei und drei sind noch heute sinnvolle Entwürfe für eine ausgearbeitete Lebenskunst. Ein überlegtes Leben zu führen heißt eben auch: Kontrolle deine Affekte. Lass nicht zu, dass etwas anderes als deine Vernunft dich beherrscht.
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Anmerkungen:
** Quelle: Hans. von Arnim, Stoicorum veterum fragmenta, Bd. 2, 2. A., 1921, 975. Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 21d.
**** Das „Handbüchlein der stoischen Moral“ wird zitiert nach Zeno.org.