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Gelebte Philosophie will Lebenswandel, nicht Recht haben

Wer kann der Dichotomie der Kontrolle nicht zustimmen? Alle Ereignisse und Prozesse sind entweder von der Art, dass wir sie kontrollieren können oder eben nicht. Das ist doch sonnenklar. Auf der rein rationalen Ebene ist diese Erkenntnis, einmal gefasst, ziemlich belanglos. Es ist eben ein Fakt, dass weite Bereiche des Lebens nicht willentlich gesteuert werden können. Das ist wahr, aber irrelevant. Wer die Dichotomie der Kontrolle und die anderen Lehrsätze der stoischen Weisheitslehre als Aussagen über die Welt liest, der ist auf dem Holzweg. Diese Einsichten beanspruchen zwar auch wahr zu sein, das heißt eine Realität in Worte zu fassen, aber darin gehen sie nicht auf.

Diese Philosophie ist vorrangig praktisch, sie will das Handeln und das Selbstverständnis des Handelnden verändern. Die eigentliche Kraft entfaltet die Dichotomie der Kontrolle dementsprechend auch auch nicht in der Argumentation, sondern in der Art und Weise, wie man am Leben teilnimmt und wie man in der Welt steht. Eine praktische Philosophie wie der Stoizismus will nicht das beste Argument, sondern den Lebenswandel.

Sein Leben zu wandeln kann eine Kur sein. Kurativ wirkt es, weil eine Veränderung der Art wie man am Leben teilnimmt und in der Welt steht, Affekte wie Zorn oder Angst vermeiden helfen. Personengruppen, welcher von dieser Kur profitieren können, sind deshalb solche:

  • die leicht reizbar sind,
  • deren Denken von Angst besetzt ist,
  • die sich von ihren starken Erwartungen leiten lassen,
  • die oft auf ihr Bachgefühl hören und dann doch reinfallen,
  • die oft in Zorn geraten (gleich ob über vergangenes Unrecht, gegenwärtiges oder zukünftiges),
  • die unversöhnlich sind, Groll empfinden, Rache nehmen wollen.

Was die Kur verspricht ist ein Wandel im Verhältnis zum Selbst und zur Welt sowie ein hemmungsfreies Denken und eine Gelassenheit als Grundstimmung.

Praktische Philosophien wie der Stoizismus entfalten ihre Mächtigkeit erst dann, wenn man nach ihnen lebt. Das unterscheidet sich von chemischen Kuren, also z. B. von der Einnahme von Substanzen. Ihre Wirkung entfalten sie nicht unmittelbar, sondern sukzessive. Der Grund dafür ist, dass man ihre Lehrsätze einüben muss. Übung bedeutet, dass jede alltägliche Situation potentiell genutzt werden kann als Bewährungsprobe.

Praktische Philosophien wie der Stoizismus als Lebensphilosophien sind erst dann ganz mit Leben gefüllt, wenn sie die fortwährende subjektive Zustimmung bekommen. Sie leben vom Entschluss. Dieser Entschluss kommt von unserer je eignen Existenz her. Die Wahl, die wir treffen, liegt begründet in unserer Spontaneität, an dem Punkt unseres Wesens, wo ich „Ich“ sage. Der Entschluss, einer Lehre zu folgen, ist ein privater Moment. Dieser Moment kann niemals Teil der Weisheitslehre sein. Es ist das Moment der individuellen Folgschaft, das sich freiwillig ergeben muss. Sich für den Stoizismus zu entschließen, bedeutet in erster Linie: Unablässig darauf acht zu geben, seine eigene Reaktionen auf ein Ereignis zu kontrollieren. Es bedeutet auch, bei Rückschlägen den Mut zu haben, den Fehler in seinem Verhalten zu suchen und den Vorsatz zu erneuern.

Der geneigte Leser möge also bedenken, dass ein Wandel ihm gut tun könne. Prinzipiell ist jeder in der Lage, diesen Wandel zu vollziehen. (Ein Mindestalter ist 16.) Der Weg dahin ist die Einübung der Lehre. Beim Einüben wird der, der Fortschritte machen will, auf sich selbst zurückgeworfen werden: Er/Sie wird sich selbst und sein/ihr Verhältnis zur ganzen übrigen Welt bedenken, ganz ohne Selbstschmeichelei und Wünsche. Mittels Achtsamkeit und Selbstkontrolle wird er/sie einen Wesenswandel herbeiführen. Der Lohn ist Selbstmächtigkeit und Gelassenheit.

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Über den Fortschritt auf dem Weg zur Weisheit

In der stoischen Weisheitstradition gibt es einen Namen für diejenigen, welche weise werden wollen: Die Fortschritt-Machenden (griechisch: Prokoptoi). Den Fortschritt-Machenden wird empfohlen: Seid Achtsam und bedenkt die Dichotomie der Kontrolle. Je öfter diese Übungen – welche wir in den vorigen Blog-Beiträgen kennen gelernt haben – praktiziert werden, desto öfter ist man auf sich selbst zurückgeworfen. Auf sich selbst zurückgeworfen sein ist hilfreich, denn dann erfährt man die eigene Existenz. Wir werden fähig, uns zu uns selbst zu verhalten.

Indem wir zwischen Unverfügbarkeit und Selbstmächtigkeit unterschieden lernen, können wir von dem einen ablassen und uns dem anderen zuwenden.

Frei nach Epiktet

Auf uns selbst zurück – auf unsere Existenz – werfen uns diese Übungen, weil wir in diesen Meditationen erkennen, dass das Kontrollierbare allein in uns liegt. Wir sind der Quellpunkt aller möglichen Veränderung. So kann ein Wandlungsprozess angestoßen werden: Dass man seinen Charakter entwickeln möge. Charakterentwicklung ist das Kennzeichen von einem, der Fortschritt macht – darin sind sich die Stoiker einig. Die entsprechenden Tugenden, die angestrebt werden sollen, werde ich unten ansprechen.

Zunächst möchte ich ausdrücklich auf einen Irrtum zu sprechen kommen, den auch ich als Anfänger in der Philosophie der Stoa gemacht hatte. Dieser Irrtum besteht darin, dass man die Dichotomie der Kontrolle allein und ausschließlich nach der externen Seite der Unverfügbarkeiten hin fokussiert und in sein Handeln einbaut. Ich meinte (irrigerweise), Gelassenheit gegenüber den Sachen, die ohnehin geschehen und die mich deshalb nichts angehen, das genüge, um Fortschritte zu machen. Tatsächlich half es: Stoische Gelassenheit ist – um es in altbackener Sprache zu sagen: – ein köstlicher Gemütszustand. Die Wahrheit ist aber, dass der Weg zur Weisheit es ebenso abfordert, dasss man an sich selber arbeite. Arbeit an einem Selbst fokussiert die Seite der Kontrollierbar, also das, was man selbst beherrschen kann. Es fordert ab, dass man sich kultiviere, Selbstkontrolle ausübt. Selbstkontrolle über die eigenen Impulse, Wünsche, Antriebe und so weiter.

Reinhold Niebuhr, ein amerikanischer Theologe, hat den stoischen Wunsch ein weiser Mensch zu werden, in einem weltberühmten Gebet gefasst:

Gott, gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,

den Mut Dinge zu ändern, die ich ändern kann,

und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Reinhold Niebuhr, The Serenity Prayer (Deutsche Übersetzung)

Drei Tugenden werden in diesem Gebet gepriesen und herbeigesehnt: Gelassenheit, Mut und Weisheit. Die Gelassenheit ist jener Gemütszustand, der den Stoikern als Schlüssel für ein ungehemmtes Leben gilt: Unerschütterlichkeit, Gleichmut. Mut und Weisheit sind Tugenden, deren Einsatzgebiet ebenfalls universell ist: Mut ist der Wille sich für die Wahrheit auch mal eine Beule zu holen, Weisheit die Fertigkeit eine kluge Wahl zu treffen.

Mut, wie er hier das Thema ist, ist nicht die Tapferkeit eines Soldaten. Es ist die Tapferkeit eines Menschen, der sich nicht selbst belügen will.

Es bedarf mehr Mut, in die dunklen Seiten der eigenen Seele zu blicken, als ein Soldat Mut braucht, um auf dem Feld zu kämpfen.

William Butler Yeats (Deutsche Übersetzung)

Die stoische Philosophie ist eine No-Bullshit-Philosophie. Was taugt der Fortschritt in der Philosophie, wenn er nicht praktisch wird? fragt Epiktet. Mut zu haben, sich selbst zu ändern, das ist die Ansinnen eines Menschen, der zugibt, dass er noch nicht fertig ist. Dieser Mensch ist zur Transzendenz fähig: er weiß, dass seine gegenwärtige geistige Gestalt, sein Mind-Set ihm selbst schadet und arbeitet an einer Erneuerung.

Weisheit ist letztlich die (nie ganz und gar verwirklichte) Fertigkeit, stets das richtige Urteil zu fällen. Richtig ist ein Urteil natürlich im Zusammenhang mit der Dichotomie der Kontrolle. Der weise Mensch, so wie als Vorbild angestrebt wird, weiß in jeder Situation, was unverfügbar ist und was kontrollierbar. Er ist vollkommen achtsam und wendet die Dichotomie der Kontrolle mühelos an.

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Akzeptiere das Unverfügbare

Die Dichotomie der Kontrolle erinnert uns daran, was wir beeinflussen können und was nicht. Die Einübung dieser Unterscheidung ist das wichtigste; wer es nicht beherzigt, der wird niemals den stoischen Gleichmut erwerben.

Zur Erinnerung: In der ganzen Konzeption der stoischen Lebenshilfe übernimmt die Dichotomie der Kontrolle die Rolle einer Kur. Die Einübung soll zu einem Lebenswandel führen. Die „Krankheit,“ die kuriert werden soll, ist das Reagieren mit schlechten Affekten. Diese Affekte hemmen uns im Denken und im Planen. Gleichmütigkeit wird in der stoischen Lebenshilfe aber ein Gemütszustand genannt, der keine dieser Affekte kennt. Zur Gleichgültigkeit gelangen wir durch Einübung der Entklammerung von Meinung und Realität und der Dichotomie der Kontrolle. In anderen Worten: Achtsamkeit und Unterscheidungsfähigkeit sind für den Stoiker – welcher bei uns ja durch Epiktet vertreten wird – Haltungen, die unser Leben wandeln hin zu einer anderen Grundhaltung.

Diese Grundhaltung, welche für den Stoiker bis auf die heutigen Tag sprichwörtlich bezeichnend ist, ist die Ruhe. Diese Ruhe des Gemüts beruht auf Übung und Meditation. Die stoische Ruhe hat auch andere Namen. Manchmal wird sie bezeichnet als „Seelenruhe,“ mal als „Gleichmütigkeit“ und auch als „Unerschütterlichkeit.“ Nicht falsch ist ebenso die Bezeichnung „Gelassenheit,“ in welches das bezaubernde Buch von Dieter Voigt und Sabine Meck [Gelassenheit. Geschichte und Bedeutung. Primus-Verlag 2005. Auch als Hörbuch.] den geneigten Leser einführt.

Für antike Philosophen, mittelalterliche Mystiker und jeden, der von der Kraft der Gelassenheit weiß, ist hier ein Zauber angesprochen, der sich auf die Seele legt. Gelassenheit ist der Schlüssel zu einem bewussteren Leben. Und eben auch Epiktet will seinen Hörern (und Lesern) die Gelassenheit näher bringen. Dazu dient die Dichotomie der Kontrolle. Sie ist die Regeln, an der wir unsere Vorstellungen prüfen sollen.

Das meint: Bei jeder möglichen Gelegenheit: Prüfe, was du kontrollieren kannst. Zum Beispiel: Der Bus kommt zu spät. Was kannst du kontrollieren? Der Aktienwert deiner Einlagen fällt. Was kannst du kontrollieren? Eine Pandemie bricht aus. Was kannst du kontrollieren? und so weiter.

Er das regelmäßig tut, wird irgendwann einen Sinn dafür bekommen, dass – ganz streng genommen – nur die eigenen Reaktionen auf eine Situation in unserer Kontrolle stehen. Wenn wir unser Leben hin zur Gleichmütigkeit verändern wollen, dann müssen wir also unsere Einstellung zur Welt ändern. In der technischen Sprache der Philosophie: Kontrollierbar sind nur unsere Impulse, Wünsche, Erwartungen und Pläne. Zugriff habe ich nur auf die innerlichen Regungen; allein sie kann ich kontrollieren, umschreiben, manipulieren, abändern.

Anerkannt zu werden verdient, dass die Realität so gut wie ohne unsere Kontrolle sich abspielt. Das gilt für das große Ganze wie für den sozialen Nahbereich. So wie ich keinen Einfluss habe auf den Drehimpuls des Planeten so wenig kann ich gegen die Sterblichkeit meines Liebsten unternehmen. Ich muss also lernen hinzunehmen, dass meine Liebsten sterblich sind. Und auch ebenso kann ich nicht unmittelbar etwas daran ändern, wie sich meine Liebsten verhalten. Ich kann nur etwas daran ändern, wie ich mich verhalte.

Epiktet** empfiehlt einen durchgehenden und kontrollierten Einstellungswandel. Seine Philosophie sagt: Falls du eine gelassene und ruhige, ganz ausgeglichene Gemütseinstellung haben willst, darfst du von unkontrollierbaren Ereignissen nur wünschen, dass sie geschehen. Arbeite stets an dieser Haltung zum Leben! 

„Verlange nicht, daß die Dinge gehen, wie du es wünschest, sondern wünsche sie so, wie sie gehen, und dein Leben wird ruhig dahin fließen.“

Epiktet, Handbüchlein der Stoischen Moral, VIII

Tust du aber doch einmal so, als ob du Dinge verändern könntest, du du nicht verändern kannst, wünscht du z. B. etwas, was unmöglich ist, dann wirst du notwendigerweise gehemmt. Du wirst Frust, Ärger, Wut empfinden und diese Affekte werden dich einschränken.

Gleichmütigkeit und Unerschütterlichkeit wird derjenige erlangen, welcher sich in der Unverfügbarkeit der Welt einrichtet. Selbst im heutigen Zustande größtmöglicher individueller Freiheit wird die Realität dich beschränken, indem sie deinen Handlungszielen Grenzen setzt, die sich zu deinen subjektiven Absichten, Wünsche, Begierden und Überzeugungen konträr verhalten. 

Der Stoiker Chrysipp bringt das geforderte in einem Parabel zum Ausdruck. Sie kann etwas so erzählt werden:

Stelle dir einen Hund vor, der an einen Wagen festgebunden ist, welcher von Ochsen gezogen wird. Wenn der Hund klug ist, läuft er freiwillig und vergnügt mit; wenn er sich aber auf die Hinterbeine setzt und jault, wird er doch mitgeschleift.

Hans. von Arnim, Stoicorum veterum fragmenta, Bd. 2, 2. A., 1921, 975.
Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 21d.

Der Wagen und die Kräfte, die ihn ziehen, stehen für den großen Weltenlauf. Die Reihe der Ereignisse, die kommen werden, ist zu einem Teil vorbestimmt. Der Wagen wird ohne unseren Willen gezogen. Gleich dem Hunde sind wir daran festgebunden. Wenn wir diese Unverfügbarkeit akzeptieren, laufen wir freiwillig mit. Der dumme Hund wird sich weigern und an der Leine ziehen, entgegensetzt der Richtung laufen und sich von ablenken wollen. Er wird dann mitgezogen, jault und leidet.

Innerhalb dieses Arrangements von Realität und ihrer Position darin bleibt aber noch die Möglichkeit, Herrschaft über sich selbst auszuüben. Den Kosmos und alles, was darin existierst, dessen Bewegungen, Zielrichtungen, Motive kannst du nicht beeinflussen. Du kannst bei aller Erdschwere der Existenz aber erfahren lernen, dass du ein Quellpunkt von Veränderung sein kannst. 

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Anmerkungen:

** Das „Handbüchlein der stoischen Moral“ wird zitiert nach: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Epiktet/Handbüchlein+der+stoischen+Moral

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Die Dichotomie der Kontrolle

Im letzten Beitrag nannte ich die Entklammerung von Meinung und Realität eine Vorübung zur eigentlichen Hauptübung. Diese Hauptübung soll in diesem Beitrag das Thema sein. Mit der Hauptübung, die ich meine, beginnt das das Handbüchlein Epiktets **. Lerne dies zu unterscheiden:

Einige Dinge sind in unserer Gewalt, andere nicht. In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist. – Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, kurz: Alles, was nicht unser eigenes Werk ist.

Epiktet, Handbüchlein der Stoischen Moral, i.

Der geneigte Leser möge sich vor Augen führen, dass Epiktet im Jahr 138 starb; seine Zeilen benennen als Beispiele für uns heutige mitunter abwegige Beispiele. Wohlgemerkt: Die Beispiele! Die Lehre als solche kann mit modernen psychotherapeutischen Verfahren konkurrieren (siehe letzten Eintrag). Epiktets Stoizismus ist eine gangbare Lebensphilosophie, welche über die Jahrhunderte verlässlich innere Ruhe, Gelassenheit und Besonnenheit gestiftet hat. Massimo Pigliucci, den ich persönlich sehr schätze, hat in ungezählten Podcasts 2020 den Wert von Epiktets Philosophie herausgehoben. Eines seiner jüngeren Bücher, aus 2020 – englisch: A Field Guide to a Happy Life; deutsch: Gelassen Bleiben mit den Stoikern – nimmt sich vor, Epiktets Lehre auf das Heute zu übertragen.

Den Arbeiten von Pigliucci entnehme ich mitunter die Benennung der Übung, die im obigen Zitat verborgen ist. Pigliucci aber hat sie ebenfalls übernommen: Sie heißt die Dichotomie der Kontrolle. Ich habe schon oft überlegt, ob ich sie nicht deutsch als Zweierlei Kontrolle oder ähnlich anspreche, werde aber weiterhin von Dichotomie reden.

Das Ansinnen der Lebensphilosophie Epiktets ist bekanntlich, dass man lerne unangenehme Affekte wir Sorge, Angst, Frust, Wut und dergleichen zu vermeiden oder zu löschen. Diese Affekte hemmen uns, machen uns handlungsunfähig. Sie führen uns ab vom Weg eines guten, gelingenden Lebens. Die Übung der Dichotomie der Kontrolle ist für Epiktet zum Erreichen dieses Ziels zentral. Er behauptet nämlich das folgende:

Menschen, die das verändern wollen, was sie nicht verändern können, werden Frust, Ärger, Angst oder andere unangenehme Affekte leiden.

Frei nach Epiktet

Hinter dieser Vermutung über die Quellen der Affekte, die uns im Leben hemmen, steht eine theoretische Überlegung: In Bezug auf unseren – das heißt: menschlichen Einflussbereich – teilt sich alles in der ganzen Welt auf in zwei Klassen: In die Klasse von Ereignissen und Prozessen, die wir kontrollieren können; und in die Klasse von Ereignissen und Prozessen, die sich unserer Kontrolle entziehen.

Beispiele für Unkontrollierbares:

Der Wunsch, das Wetter zu kontrollieren, ist kindisch. Ähnlich kindisch wäre der Frust, dass das Wetter sich nicht so verhält, wie man erwartete. Das Wetter entzieht sich unserer Kontrolle. Wir sollten besser überhaupt keine Mühe und Kraft auf das Prognostizieren oder Bewerten von Wetter legen. Unnütz!

Mein eigenen Körper steht letztlich nicht unter meiner Kontrolle. Dass ich mich über mein Altern – welches doch ein Prozess in den Zellen ist, den ich nicht beeinflussen kann – ärgere, fürchte und gar viel meiner Zeit darauf verwende, dies zu übertünchen, das bringt mich nur in Ungleichgewicht und Unruhe.

Der Ärger über den verspäteten Bus ist so als ob ein Kid vor Wut trampelt. Man kann nicht beeinflussen, wie der Verkehr in der Stadt sich gestaltet.

Ob meine Kollegen ausgeschlafen, verkatert, in Gedanken bei ihren Eheproblemen oder sonst wie abgelenkt sind, so dass ihre unkonzentrierte Art mich in meiner Arbeit stört – das kann ich nicht abändern. Die Welt dennoch so zu wünschen, als wäre es nicht so, das ist töricht.

Beispiele für Kontrollierbares:

Meine Geburtstagsfeier entwickelt sich nicht auf die Art und Weise, ich ich erwartet habe. Dem Unmut und Missvergnügen, was über diese Enttäuschung entsteht, kann ich entgegentreten und sie auflösen.

Ich ärgere mich über das Verhalten meiner Mitmenschen im Straßenverkehr. Hier kann ich meine Meinungen über die Menschen revidieren, und damit die Wurzel des Ärgers ausreißen.

Ich rieche guten Kaffee und zähle schon innerlich, ob ich genug Geld dabei habe. Und doch will ich doch früh ins Bett. Dem Kaffeeimpuls kann ich begegnen, ich kann ihn kontrollieren.

Man kann den praktischen Stoizismus nicht besprechen, ohne auf die Dichotomie der Kontrolle zu sprechen zu kommen. Der geneigte Leser möge sich zur Aufgabe setzen, fortan und in der kommenden Zeit immer wieder einmal sich vor Augen zu führen, was kontrollierbar ist und was nicht kontrollierbar ist.

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Anmerkungen:

** Das „Handbüchlein der stoischen Moral“ wird zitiert nach: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Epiktet/Handbüchlein+der+stoischen+Moral

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Über die Entklammerung von Meinung und Realität

Achtsamkeit erlaubt es uns, eine Distanz zwischen uns und die Dinge zu bringen. Diese Kluft zwischen (m)einem Innen und Welt allein ist eine befreiende Zone der Beruhigung. Nicht jedes Ereignis wird mich dann zum Reagieren bringen; zwischen jedem Ereignis und meiner Reaktion liegt die Verzögerung der achtsamen Beobachtung. Diese herbeigeführte Distanz zur Welt stiftet Zeit und Freiheit, sich auf das Ereignis einzustellen.

Unachtsame Menschen, die diese Distanz zwischen ihren Meinungen und den Dingen nicht herstellen können, neigen dazu, gleich auf ihre Eindrücke oder Impulse zu reagieren. Der typische Fehler, der ihnen dabei unterläuft, ist der: Sie vermischen den dazugedachten Anteil ihrer Vorstellung mit dem dinglichen Anteil. Diese Vermischung von Bewertung und Fakt bewirkt oft Sorgen, Furcht oder Angst sonstwie ein unangenehmer Affekt. Typische Beispiele für solche Verwirrungen im Denken:

„Mein Kollege kritisiert schon wieder meine Arbeit, also mag er mich nicht.“ (voreilige Schlussfolgerungen)

„Heute ist mir wieder ein Fehler unterlaufen, mir unterlaufen immer Fehler, ich kann einfach nichts.“ (Verallgemeinerung)

„Ich wurde nicht befördert; niemals werde ich eine Karriere haben.“ (negative Zukunftsprognose)

„Der hat viel Geld, also ist er glücklicher als ich.“ (falsche Attribuierung)

und viele andere Denkkonfusionen mehr.

Was praktisch aus diesen Konfusionen folgt ist stets Hemmung. Fassen wir solche Gedanken und lassen uns auf sie ein, so bewirken sie negative Affekte wie Selbsthass, Sorge, Angst, Zweifel usw. Diese Gefühle schränken uns ein, weil sie das Denken belagern. Von Affekten belagertes Denken fokussiert sich auf das Schlechte und Üble. Eingeengtes Denken hemmt aber unser volles Potenzial, etwa die, Handlungsmöglichkeiten zu sehen In einem anderen Sinn führt die Denkkonfusion zur Hemmung, indem sie uns erstarrt. Wir haben dann keinen Handlungsantrieb mehr, sehen nicht mehr ein, weshalb wir überhaupt noch etwas tun sollten:

„Die Welt und alle in ihr sind doch ohnehin schlecht und gegen uns.“ (Globales Misstrauen).

Über diese Vermischung von Meinung und Realität will ich heute schreiben. Und wieder beziehe ich mich dafür auf die Weisheitstradition des Stoizismus. Der Stoizismus hat im Laufe der Jahrhunderte bemerkenswerte Einsichten darüber gewonnen, a) wie diese gedanklichen Verbindung von Meinung und Realität entsteht und wie man diese Vermischungen vermeiden lernen kann.

Auch Epiktet lehrte** in seinen Belehrungen über jene verwirrte Vorstellungen und ihre pathologischen (das heißt hier: von schlechten Affekten begleiteten) Konsequenzen für unser Leben. Das vielleicht berühmteste Zitat dieses stoischen Philosophen, den wir bereits aus der Einführung zu den Achtsamkeit-Übungen kennen, lautet:

„Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beunruhigen die Menschen.“

Epiktet, Handbüchlein der Moral, V.

Darin spricht sich ein tiefe Einsicht in die Natur der Prozesse, die menschliches Handeln motivieren, aus. Menschen werden von ihren Meinungen motiviert, und nicht von der Faktenlage. Die Diagnose die Epiktet stellt: Affektives Reagieren ist gleichbedeutend damit, dass man sich einer Meinung über die Welt überlässt. Und nur folgerichtig ist es, auf der Basis dieser Diagnose, das Heilmittel im Umkreis der Veränderung dieser Meinungen zu suchen.

Die Auseinandersetzung mit diesem Lehrsatz ist keine schöngeistige Spielerei. Die konstruktivistische Psychologie um Paul Watzlawick, die Depressionstheorie um Aaron Beck, die Kognitive Verhaltenstherapie um Donald Robertson und die Sozialpsychologie um haben den Sachgehalt dieser Beobachtung bestätigt und arbeiten mit dieser Lehre. ****

Will man weise werden, so mache man sich einmal im Leben klar, welche Postion wir Menschen denkend zur Welt einnehmen. Nicht die Welt ist in meinem Kopf, sondern ein Bild von der Welt. Die Welt ist immer vermittelt durch Wahrnehmung und Sprache und wird im Wach-Zustand quasi von innen her mit Erinnerungen, Einbildungen und gedanklichen Zusammenhängen (Verstand) verbunden. Die normale mentale Aktivität ist immer ein individuelles Bewusstsein, das mit Intelligenz, Emotionalität und Willen einer objektiven Welt gegenübersteht.

Gelebte Achtsamkeit hat zum Ziel:

Separiere deine Faktenurteile von deinen Bewertungen.

Die Vermischung von Meinung und Realität, auf die wir achtsam sein sollen, wird bewusst, wenn wir uns Fälle aus dem Alltagsleben ansehen, wo wir sagen „Das ist gut.“ und „Das ist schlecht.“ Zum Beispiel: „Der Topf kocht über- das ist schlecht.“ „Der Kaffee ist im Angebot – das ist gut“ Der geneigte Leser möge richtig verstehen: Thematisch sind wir hier nicht bei schlecht und gut, sondern bei der Vermischung. Der Achtsame Mensch würde beobachten: „Der Topf kocht über.“ PUNKT und „Das finde ich schlecht, denn das bedeutet für mich mehr Arbeit“ oder „Der Kaffe ist reduziert.“ PUNKT und „Das finde ich gut – denn ich mag es Kaffee zu trinken und kann mir so einen Vorrat anlegen.“

Schon in diesen harmlosen Übungen sehen wir: Gewöhnlicherweise neigt unsere normale mentale Aktivität zu einer blitzschnellen Einschätzung der Lage: „Überkochender Topf = schlecht für mich.“ Wenn wir diese Einsicht theoretisieren, dann können wir sagen: Meinungen und Sachverhalte werden bei normaler mentaler Aktivität verklammert zu einem Gedanken: (Meinung|Sachverhalt) bzw. (Schlecht|übersprudelnder Topf). Genau das ist gemeint, wenn von der Vermischung von Meinung und Realität die Rede ist.

Gelebte Achtsamkeit hat zum Ziel: Separiere deine Faktenurteile von deinen Bewertungen. Trenne bewusst zwischen dem Anteil an deinem Denken, der deine persönliche Meinung ist, ab von dem Anteil am deinem Denken, der die Realität meint.

Auf die obigen Beispiele gemünzt: Ich beobachte, das mein Kollege mich wiederholt kritisiert. In mir steigt die Vermutung auf, dass er mich nicht mag. ODER Ich führe mir vor Augen, heute habe ich einen Fehler gemacht. Ich erinnere mich, dass ich letzte Woche wieder einen Fehler gemacht habe. Die Meinung, die in mir aufsteigt ist, dass ich unfähig bin. ODER Ich erkenne an, dass ich nicht berücksichtigt wurde bei der Beförderung. Und ich merke, dass ich befürchte, dass ich nichts wert bin.

Merke: Die Achtsamkeitsübung hilft nur zum Separieren. Sie selbst ist nicht die Lösung. Sie hilft aber zur genaueren Wahrnehmung der Welt, weil wir hier unterscheiden zwischen dem objektiven Anteil unsres Denkens und dem, was aus uns kommt.

Dies ist ein Vorübung. Wer sie beherrscht, wird die Kernlehre des Stoizismus: Die Dichotomie der Kontrolle erfolgreich umsetzten können.

Wer in den alltäglichsten Situationen ernsthaft und mit festen Vorsatz diese Übung der Entklammerung von Meinung und Realität vornimmt wird bemerken, dass er mit fortschreitender Übung eine stetig größer werdenden Zeitraum ruhiger Distanz in seiner Aufmerksamkeit willentlich erhalten kann. Die Affekte werden dadurch an Intensität verlieren.

Einer der größten natürlichen Feinde des Affekts ist das beobachtende Selbst, das ihn aufsteigen sieht. Während der gewöhnlichen mentalen Aktivität ist es der Affekt, der unsere Aufmerksamkeit auf ein Objekt richtet. Durch Achtsamkeit bewirken wir es, dass das beobachtende Selbst die Kontrolle über unsere Aufmerksamkeit bekommt. Der Affekt verblasst dadurch.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Man erreicht durch Selbstbeobachtung eine Distanz zu den Meinungen, welchen man sich üblicherweise überlasst. Die Vermischung oder Verklammerung von Meinung und Realität kann durch Achtsamkeit-Übung aufgebrochen werden. Die so geschaffene Distanz befreit uns vom unmittelbaren Reagieren und durch Übungen werden auch die Affekte, welche durch die Meinung ausgelöst werden, an Kraft verlieren.

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Anmerkungen:

** Das „Handbüchlein der stoischen Moral“ wird zitiert nach: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Epiktet/Handbüchlein+der+stoischen+Moral

**** Aaron Beck, Kognitive Therapie der Depression, Mehrere Auflagen; Donald Robertson: https://donaldrobertson.name/2020/06/28/review-of-the-philosophy-of-cbt-2nd-ed/; Sozialpsychologie: Thorsten Benkel, Signaturen des Realen, Konstanz Universitätsverlag 2007.

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Über Lebensphilosophie und Lebenskönner

Die stoische Lebensphilosophie kann man als eine Art von Therapie verstehen. Das bedeutet nicht, dass jeder, der sie praktiziert im klinischen Sinne krank war. Therapieren hat eine ziemlich harmlose Grundbedeutung. Es bedeutet so viel wie begleiten. Erst die weitere Bedeutung ist: Heile-Machen, kurieren, gesunden. Der Therapeut ist – wörtlich genommen – der Begleiter. Und Begleitung ist nicht nur nötig bei einer Krankheit. Auch eine persönliche Krise braucht Begleitung. Der Anfänger in einer Weisheitslehre braucht Begleitung. Und auch der Blinde braucht Begleitung.

Es gab eine langen Zeitraum in der europäischen Geschichte, da man Philosophen zutraute lebenspraktische Weisheit, Ratgeber und Lebensbegleiter zu sein. Es ist dieses Erbe, an dem ich in meiner Praxis interessiert bin; ich möchte es sozusagen restaurieren und nutzen. Nutzen aber heißt es mit anderen einzuüben und es sonstwie in das Leben einzubringen.

Philosophen können auch heute noch mit Expertise sprechen. Sie sind Experten für das Allgemeine im Leben, das heißt für das, was an jedem Tag und zu jeder Stunde wichtig ist im Auge zu haben. Das Allgemeine, das für das Leben wichtig ist, ist z. B. Entscheiden, Wählen, Selbstkontrolle über, Aufmerksam werden, das Ziel nicht aus dem Auge verlieren, Priorisieren, hinter seinem eigenen Entschluss stehen, sich nicht belügen und betrügen und dergleichen mehr.

Als Weisheitslehrer und Lebensratgeber können die praktischen Hinweise eines Philosophen einen zum Lebenskönner machen. Der gelungene Ausdruck „Lebenskönner“ ist eine Schöpfung des Vaters der Philosophischen Praxis, Dr. Gerd Achenbach [https://www.achenbach-pp.de]. Lebenskönner verstehen es, dem Spiel aus Notwendigkeiten und Zufällen ein persönliches Ziel zuzufügen und standfest zu werden. Lebenskönner kennen sich und wählen klug, sie schießen nicht über das Ziel hinaus und fühlen sich mit der Welt verbunden. Der Lebenskönner ist sozusagen die zeitgenössische Form des weisen Menschen, einer der sich darauf versteht ein Leben zu führen, das gelingt.

Von einem Philosophen darf man im Gespräch keine besonderen Ratschläge erwarten. Da gehe man bitte zu Fachleuten: Steuerberater, Finanzberater, Schmerzberater, Einkaufsberater, Aufräumberater, Ernährungsberater, Trainer usw. Bei einem Philosophen bekommt man Ratschläge zur eigenen Stellung in der Welt und im Verhältnis zur ganzen übrigen Natur, zum richtigen Verhalten gegenüber anderen Menschen, zu den Wegen der Selbsterkenntnis sowie zur klugen und überlegten Wahl.

Die Überschneidung zu anderen, eventuell spirituell sich nennenden Traditionen ist nicht zufällig. Ein beratender Philosoph bedient sich einer Theorie, das ist eine Menge von Einsichten zur guten Art und Weise ein Leben zu führen. Diese Theorie nennen wir seine Lebensphilosophie. Lebensphilosophen beinhalten im Grunde Einsichten aus drei Themenbereichen: Was ist die Welt? Auf welche Weise stehe ich in ihr? Wie soll ich mit anderen Menschen umgehen? Und zusätzlich haben sie eine Reihe von Übungen, um das Leben der Einsichten entsprechend einzurichten.

Auf diese Fragen gibt jede spirituelle Tradition eine Antwort, sei es der Daoismus, der Buddhismus, der Hinduismus, der Islam oder das Christentum. Gelebte Philosophie und Religion unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht. (Der eklatante Unterschied liegt darin, dass die gelebte Philosophie von frei sich verbindenden Personen eingeübt wird, während die Religionen je verschiedene Kultus-Feiern und Einweihungsriten haben.)

In diesem Sinne ist auch der Stoizismus eine Lebensphilosophie. Sie hat als theoretischen Unterbau Antworten auf jene drei Fragen parat. Und sie hat Übungen ausgebildet, mit denen der, der Fortschritte macht, jene Lebensphilosophie praktisch werden lassen kann. Praktisch werden heißt letztlich: Theorie und Praxis, Wort und Tat, Einsicht und Handlung, Überzeugung und Wahl, Verstand und Wille, Vernunft und Impuls in eine Ausrichtung zu bringen.

Therapeutisch ist die stoische Philosophie, indem sie verspricht, 1) den Praktizierenden von unangenehmen Affekten (wie Angst, Sorge, Wut, Verbitterung, Groll, Eifersucht) zu lösen und 2) ihn handlungsfähiger zu machen. Handlungsfähigkeit hat großen Anteil an psychischer Gesundheit. Eigenschaften eines Handlungsfähigen sind: Ohne Hemmung der Zukunft entgegen gehen, sich mit dem Handlungsfeld (der Heimat, der Gemeinschaft, dem Planeten, der Natur, Gott) verbunden fühlen, ungehemmt durch Reue handeln, sich selbst vergeben können, hinter einer Entscheidung stehen können. Diese Leichtigkeit verspricht der Stoizismus. Gemeint ist, dass man einen Gemütszustand anstrebt, der Gelassenheit genannt wird.

Der Philosoph als Ratgeber kann aber nur Hinweisgeber sein. Die Praktizierung, die Übung liegt nur in deiner Hand. So wie man jemanden, der blind ist, schlecht die Farben erklären kann, so kann man nicht schlecht die lebens- und geisteswandelnden Anteile des Stoizismus (oder andere Lebensphilosophien) jemandem erklären, der es auch nicht ausprobiert.

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Ein Schritt in Richtung Achtsamkeit

In vielen Weisheitstraditionen gibt es Achtsamkeit-Übungen, so z. B. im Buddhismus und im Stoizismus. Ich persönlich kenne die letztere viel besser als die erste. Einige stoische Übungen praktiziere ich selbst. Sie sind hilfreich dafür, ein überlegterer und in sich ruhender Mensch zu werden. Wie angekündigt will ich in diesem Blog in loser Folge einige Übungen vorstellen. Solche Übungen haben immer theoretische Lehrsätze zur Voraussetzung: Die Theorie sagt einem sozusagen, was einzuüben ist und zu welchem Zwecke. Deshalb werde ich hin und wieder auch theoretisch reden müssen. Vor die Behandlung der Sache stelle ich meinen persönlichen Weg zum Stoizismus dar.

Den Kontakt zum Stoizismus habe ich mir nicht bewusst ausgesucht. Ich bemängele ja oftmals die Moralerziehung in unserem Land. Von den endogenen Weisheitslehren, also die, welche aus der hebräisch-graeco-romanisch-christlichen Tradition kommen (dieser Ausdruck ist selber ausgedacht!), erfährt man aus Fernsehen, in den üblichen Schulen und in den Gemeinden wenig. Viel attraktiver sind die exogenen, die auch ziemlich exotisch sind. Ich bemängele nichts, wenn ich so rede. Ein gesunder Synkretismus (ein Zusammensuchen) aus diesem und jenen ist vielleicht der Weg der Zukunft. Was ich sagen will: Jene Weisheitstraditionen, die ich meine, und die zur Erbmasse unserer Kultur gehören, gehören nicht zum Schrott der Geschichte, sondern können, wenn man sich entscheidet, in ihnen zu leben, die Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig prägen.

Der Stoizismus erfährt ja in der englischsprachigen Welt ein globales Revival. Ich werde darüber und über den traditionellen Stoizismus in zukünftigen Blogeinträgen schreiben. Zu meinem Bedauern zieht diese Wolke über das Tal der Ahnungslosen hinweg.

Wie auch immer, ich persönlich bin in 24 Lebensjahr eher zufällig auf den Stoizismus gestoßen. Ich legte ein Universitäts-Seminar zum Kreativen Schreiben. Frau Dr. Mischer (Grüße!) drückte den fünfen, die den Weg in den Kurs fanden, das „Handbüchlein der Moral“ von Epiktet auf Auge**; es sollte uns als Grundlage dienen für einen Aufsatz über das glückliche Leben, mit welchem das Seminar abschloss.

Ich bin dankbar, dass mir Epiktet so zugefallen ist. Ich grub mich in Büchern über die Stoa ein und las für einige Wochen meditativ in diesem Text. Er hat mich sehr angerührt. Der Ernst der Worte und der Inhalt der Lehre – den ich durch die zusätzliche Lektüre vertiefter verstand – bewirkte in mir einen Lebenswandel. Noch niemals vorher hatte ich dies durch ein Gedankensystem erfahren. Eigentlich las ich an der Universität Kant und andere theoretische Texte. Dies verwandelte zwar auch mein Verhältnis zur Welt. Aber es forderte mich nicht zum Wandel meines ganzen Lebens auf. An einem sonnigen Tag auf der Wiese, in der Woche sieben meiner Beschäftigung mit Epiktet und dem Aufsatz, schlug dann der Gedankenblitz ein. Epiktet redet davon, dass „Philosoph“ ein Ehrentitel ist und dass man sein Leben ändern muss, um ein Anwärter darauf zu sein. Ich wollte diesen Titel erwerben und da war mir besonders einprägsam:

„Entscheide dich jetzt […] Du hast die philosophischen Lehren empfangen […] Auf was für einen Lehrer wartest du jetzt noch, um ihm die Aufgabe zu übertragen, deine Besserung zu bewirken.“

Epiktet, Handbüchlein der Moral (L)

Da fand ich mich eben auf mich selbst zurückgeworfen. Natürlich, diesen Ehrentitel kann ich nur erwerben, indem ich ihn mir durch Taten verdiene. Hier ward ich in meiner Existenz angesprochen: Du musst etwas aus dir machen! Wenn du das erreichen willst, dann bilde dich derart aus!

Ein zeitgenössischer Vertreter des Stoizismus, Massimo Pigliucci, sagt zu Recht, dass Epiktet ein Non-Bullshit Denker sei. Er hat das Wichtige und das Ernsthafte im Blick, soll das heißen. Logische Dispute oder theoretische Fragen findet man bei Epiktet nicht. Seine Lehre ist praktische Philosophie: Gelebte Philosophie. Mit Epiktets Büchlein habe ich für persönlich jedenfalls gelernt, was es heißt, achtsam zu werden.

Als erster Schritt dahin, dem geneigten Lesen mehr von stoischen Achtsamkeitsübungen zu erzählen, wird dieser Beitrag umreißen, was dieser besondere Zustand – die Achtsamkeit – besagen soll. Mit der Hilfe einiger Brocken aus der Philosophie Epiktets soll das dann erläutert werden.

Ein übliches Missverständnis der Achtsamkeit denkt etwa so: Achtsam ist der, welcher die Welt und sich aufmerksam wahrnimmt. Das ist insofern nicht korrekt, als hier der gewöhnliche Zustand des wachen Bewusstseins mit dem zu erreichenden Zustand der Achtsamkeit verwechselt wird. Es ist wichtig, sich diesen Unterschied ganz deutlich zu machen.

Ein Exkurs über die Natur des gewöhnlichen wachen Bewusstseins ist daher sinnvoll: Wenn wir wach sind, dann lenken wir unsere Urteile und Gedanken aufmerksam auf ein Objekt. Das ist die gewöhnliche mentale Aktivität. Genau genommen ist „mentale Aktivität“ der Oberbegriff für Prozesse wie Vorstellen, Wahrnehmen, Aufmerken, Wünschen, Erwarten, Bewerten und dergleichen (der Fachausdruck ist Kognition). Eigentümlich ist, dass alle diese Prozesse ein Objekt haben (der Fachausdruck hierfür ist Intentionalität). Das Objekt dieser Aktivität ist ganz schlicht das, auf das sich diese Aktivität bezieht. So ist „Einen Gedanken haben“ und „An ein Objekt denken“ ein und derselbe Prozess; ebenso ist „Einen Wunsch haben“ und „Etwas wünschen“ ein und dasselbe; und so für alle anderen Prozesse dieser Art. Undenkbar, dass diese Prozesse kein Objekt haben. Beispielsweise ist ein Wunsch ohne Bezug, ein leerer Wünsch ein Unding, hölzernes Eisen, ein Widerspruch. Ebenso hölzerne Eisen wäre leere Erwartungen oder leere Einbildungen. Der Inhalt von mentalen Prozessen kann verworren sein oder klar, aber es bleibt ein Inhalt. Glasklare Gedanken sind ja eine Seltenheit, ganz oft sind die Gedanken unklar, undeutlich, uneindeutig, konfus, diffus oder vage; aber immer haben sie einen Inhalt. Das eben ist die Natur mentaler Prozesse, sie beziehen sich immer auf etwas: ihr Objekt. Wir sagen dazu, dass sie Bezug haben oder dass sie lnhalt haben (manche sagen auch, dass sie Gehalt haben). Dieses Objekt unsere mentalen Aktivität ist immer etwas, auf das wir zu sprechen kommen können. Mit anderen Worten: Das, worauf wir uns beziehen, wenn wir wünschen, vorstellen, erwarten usw. kann mit unserer normalen Sprache zum Thema werden. Wir sind ja in unseren mentalen Aktivitäten nicht eingeschlossen, sondern können uns über unsere Gedankeninhalte, Wunschobjekte, Erwartungsinhalte usf. unterhalten und austauschen. Exkurs Ende.

Achtsamkeit ist eine Haltung, die wir einnehmen, wenn wir uns selbst betrachten beim Vorstellen, Wünschen, Erwarten, Bewerten usw. Das, worauf der Achtsame blickt, ist seine eigene Aufmerksamkeit. Aus naheliegenden Gründen nennen andere Weisheitslehrer diese Haltung auch bewusstes Wahrnehmen oder höheres Bewusstsein. Bewusstsein bedeutet ja begleitendes Wissen. Wenn ich bewusst gehe z. B., dann gehe ich nicht bloß, sondern ich weiß noch darüber hinaus, dass ich gehe. Wer auf ähnliche Weise die gewöhnliche mentale Aktivität von dem Wissen darüber begleiten lässt, der wandelt achtsam durchs Leben. Dieses Sich-Selbst-Beim-Denken betrachten oder Sich-Selbst-Beim-Wünschen betrachten, das kann willentlich herbeigeführt werden, es ist aber anstrengend und ermüdend, es muss geübt werden und seine Dauer kann mit zunehmender Übung gesteigert werden.

Aus der obigen Betrachtung der Natur des gewöhnlichen wachen Bewusstsein wissen wir, dass wir ständig und immerzu aufmerksam Bezug nehmen (auf Inhalte aller Art). Wir sind im Wachzustand sozusagen in Gedanken immer irgendwo. Achtsamkeit nennen wir nun nicht die Aufmerksamkeit, die durch das gewöhnliche Wachen immer schon hergestellt ist, sondern eine Aufmerksamkeit zweiter Stufe. Wer achtsam ist, der achtet auf den Prozess der Herstellung von Aufmerksamkeit. Wer achtsam ist, der achtet auf seine Einstellung zu den Inhalten der mentalen Aktivität. Beispiele mögen das verdeutlichen.

Du gehst durch die Einkaufsstraße und wirst aufmerksam auf die Werbung für einen Handyvertrag. Betrachte nun nicht weiter das Angebot, sondern betrachte, welche Bedeutung du dem Angebot schenkst. Es steigt in dir der Wunsch nach einem neuem Smartphone auf? Bedenke nicht weiter das Gerät, sondern welche Bedeutung du ihm schenkst. Du gehst weiter und denkst an das Meeting, dass du morgen Mittag haben wirst. Dein Kollege wird sich sicher wieder aufspielen. Das nervt dich. Bedenke nicht weiter die unangenehme Art deines Kollegen, sondern welche Bedeutung du dieser Art schenkst.

Die Forderung der Achtsamkeit lautet: Sei aufmerksam darauf, auf was deine Aufmerksamkeit gelenkt ist und bedenke die Bedeutung, die du dem Vorstellungsinhalt gibst.

In der Philosophie Epiktets wird das Einüben von Achtsamkeit empfohlen, um ein Gegenmittel gegen die negativen Affekte zu haben. Negative Affekte wie Angst, Zorn, Wut, Kummer, Sorge, Furcht, Eifersucht, Sehnsucht, aber auch Begierde, Lust, Geilheit – das ist die Kurzfassung – schränken unsere Handlungsfähigkeit ein. Unser klares Denken wird von diesen Affekten überlagert, eingeschränkt; wir sehen die Welt eingeengt, Optionen stehen uns nicht zur Wahl, wir sind in unserer Persönlichkeitsentwicklung eingeschränkt, sind gehemmt, gehindert, wir haften uns an die Dinge. Mit einem Wort: Das Ziel der stoischen Übung ist es, sich von diesen Affekten frei zu machen; das glückliche Leben ist eines der Abwesenheit negativer Affekte.

Um das Entstehen dieser Affekte aufzulösen, um diesen Affekten aktiv zu begegnen empfiehlt Epiktet das Gegenmittel Achtsamkeit. Dem schon fortgeschrittenen Schüler gibt er mit auf dem Weg, dass er auf seine Vorstellung stets auf diese Weise acht geben möge:

„Bestrebe dich, jeder unangenehmen Vorstellung sofort zu begegnen mit den Worten: du bist nur eine Vorstellung, und durchaus nicht das, als was du erscheinst.“

Epiktet, Handbüchlein der Moral (I)

Fühlst du ein Widerstreben in dir? Oder bist du besorgt? So lass dich nicht in diese Gefühle fallen, sondern sei aufmerksam, darauf dass deine Emotionen und deine Einstellungen zu den Dingen nicht dasselbe ist wie das Objekt deiner Vorstellung. Hinter solch einem Ratschlag steht ein Wissen darüber, wie mentale Aktivität funktioniert. Vorstellungen sind teils sprachliche teils (träum)bildartige Darstellungen von etwas, was in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft ist. Unsere Einstellungen und Emotionen beziehen sich auf diese Inhalte. Epiktet Empfehlung ist zweifältig, er sagt 1.) sei aufmerksam, dass der unangenehme Affekt zur selben Zeit auftritt wie der Gedankeninhalt und 2.) mache dir klar, dass die Quelle des Unbehagens deine Vorstellung ist, deine Einstellung.

Wenn wir uns auf diese Weise auf Distanz gehen zu unserer eigenen mentalen Aktivität, haben wir schon einen Schritt hin zu einer achtsameren Lebensweise gemacht. Diesen Schritt einzuüben, dies sollte die Aufgabe des Anfängers in der philosophischen Lebensweise sein. Tatsächlich erkennt man jemand, der in der Lage zum Philosophieren ist, daran, dass er unterscheiden kann zwischen Denken und Sein. Die Welt ist im Kopf und der Kopf ist in der Welt. Das, was ich denke, hat eine subjektive und eine objektive Seite. Nicht der Baum ist in meinem Kopf, sondern ein Bild des Baumes, das ich mit einem Begriff versachliche.

Unbedarfte Köpfe vermischen Wunsch und Realität, Sein und Sollen, Denken und Wirklichkeit, Wach-Sein und Traum, Empfindung und Argument. Achtsamkeit ist nichts, was spezifisch wäre für Epiktet oder den Stoizismus oder sonst wie aus einer bestimmten Weisheitslehre kommt. Achtsamkeit ist die Fähigkeit, über die eigenen Einstellungen zu Gedankeninhalte zu reden und sich zu seinen Gedankeninhalten dann zu verhalten.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Weg der Achtsamkeit beginnt da, wo man weigert, sich den üblichen und automatisch sich einstellenden Gedanken, Wünschen und Erwartungen hinzugeben. Ich sehe ein Stück Kuchen in der Auslage, und will es haben. Ich sehe einen gut gekleideten Menschen und halte ihn für erfolgreich. Mein Partner kritisiert mich und ich fühle mich gekränkt. Dies sind alltägliche Fälle, in welchen eine vorschnelle Verbindung zwischen Aufmerksamkeit und Affekt bzw. Bewertung beobachtet werden kann. Die Distanz zu den Gedanken entsteht langsam in einer kontinuierlichen Übung. Ist die Distanz da, dann sind wir der Selbstkontrolle fähig.

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Anmerkungen:

** Der Titel des schmalen Bändchens variiert mit der Übersetzung. Die online-Version von zeno.org heißt z. B. „Handbüchlein der stoischen Moral,“ http://www.zeno.org/Philosophie/M/Epiktet/Handbüchlein+der+stoischen+Moral

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Selbstmächtigkeit erwerben

Ich möchte das Thema des letzten Beitrags vertiefen.

Die Anempfehlung, die Sokrates jedem Wissbegierigen erteilt: „Pflege deine Seele; strebe nach Tugend; tue stets das Rechte“, ist der Boden zahlreicher anderer Philosophien geworden. Sokrates hat eine enorme Auswirkung gehabt; In jedem Jahrhundert würdigte man die sokratische Lehre. Der Interessierte kann sich davon überzeugen, z. B. mit Hilfe des Abschnitts „Nachwirkungen“ im Eintrag in der Wikpedia https://de.wikipedia.org/wiki/Sokrates.

Weisheit, sagt man, veraltet nicht. Sie muss aber ab und zu dem Wissenstand und der Weltanschauung einer neuen Zeit angepasst werden. Deswegen ist es für die heutige Zeit angebracht, in Sachen Weisheit auch die Psychologen anzuhören. Dieses Wissensgebiet hat ja enorme Kräfte auf die Erforschung von Lebensführung und Glückseligkeit verwendet.

Betrachten wir „Pflege deine Seele; strebe nach Tugend; tue stets das Rechte“ also erneut. Diese Empfehlung fordert unter anderem dazu auf, Macht über sich selbst zu bekommen, handlungsfähig zu werden. Selbstmächtigkeit ist ein bedeutender Faktor eines gelingenden Lebens.

Selbstmächtig nennt man eine Person, die sich selbst als das Subjekt ihrer Handlungen erfährt. Ein solche Person empfindet die Zukunft als einen Bereich, der ruht, und in dem sie sich strebend ausdehnen kann. Diese Haltung gegenüber dem Selbst in der Gegenwart und der Handlungsmöglichkeiten in der Zukunft macht den Selbstmächtigen zu einem aktiven Gestalter. – Das Kontrastbild dazu ist der gehemmte Mensch. Ein Mensch, der sich stets als das Objekt seiner Entscheidungen empfindet; dem die Sachen passieren, der ein passiv leidender des Ereignisverlaufes ist (das umgangssprachliche Opfer). Dieser Mensch erfährt sich in der Gegenwart als passiv und empfindet die Zukunft als etwas, das auf ihn zukommt, das ihn zu ersticken, zu überrollen, zu übermannen droht. Aus Furcht oder Zweifel wird er so handlungsunfähig, seine Einstellungen zu sich und den kommenden Dingen lähmt ihn.

Handlungsmächtigkeit beginnt, so übersetzte ich Sokrates in die heutige Zeit, in der Übung dabei, sich selbst unter Kontrolle zu bringen. Diese Fähigkeit nennt man Selbststeuerung. Der Arzt und Autor Joachim Bauer hat ein verständliches Buch über diese Komponente selbstbestimmten Lebens geschrieben: J. Bauer, Selbstbestimmung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, Blessing-Verlag, 2015. Er definiert: Selbststeuerung als ein im Dienste der Selbstfürsorge stehendes Bemühen. Und zwar als ein Bemühen um eine Balance zwischen Selbstkontrolle einerseits und der angemessenen Berücksichtigung der Triebwünsche andererseits.

Diese Aufgabe – Selbststeuerung zu üben – kennt schon Platon. (Ich verweise auf das Erklärt-Video, das ich für Schüler produziert habe | https://www.youtube.com/watch?v=t67CU2PgIoo&t=7s | ab ca. Minute 18 komme ich zum Thema.)

Wenn ein Psychologe von Triebwünschen spricht, dann, so meine ich, versteht die Allgemeinheit (ich eingeschlossen) darunter Sex. Das ist zwar richtig, aber Geilheit ist nicht die einzige Dimension, wie wir das seelische Erfahren, welchem wir im Sinne der sokratischen Empfehlung eine Richtung geben soll. Gemeint sind ganz allgemein, all jene drängenden Kräfte in uns, die auf Befriedigung aus sind. Ganz allgemein fallen darunter die Grundbedürfnisse, die sinnlichen Freuden und die Konsumwünsche (jenes Bedürfnis, das das Denken besetzt und schreit: „Das will ich haben.“).

Macht über sich selbst zu bekommen ist ein weit angelegtes Unternehmen. Was uns im Sinne des Erwerbs von Selbstbestimmung aufgegeben ist dies: Unsere Bedürfnisse, Begierden und Wünsche einer stets abrufbaren Kontrolle zu unterwerfen. – Das Negativbild ist auch hier: der unkontrollierte Mensch, wobei „die Kontrolle verlieren“ soviel heißt wie „sich an seine Wünsche und an seine Begierden verlieren“.

Krankhafte Fälle dieses Kontrollverlustes sind z. B. Essstörungen wie Binge-Eating oder der sog. Ochsenhunger. Essstörungen gehören zu den sogenannten Störungen der Impulskontrolle. Eine andere Störung aus dieser Klasse psychischer Störung ist das krankhafte Einkaufen. Aber auch der krankhafte Gebrauch von Netflix (Stichwort: Binge-Watching) fällt hierunter.

Impulskontrollstörung – das kannten Sokrates und all die anderen antiken Philosophen auch. Vieles von dem, was sie über den idealen Menschen schrieben, ist vor dem Hintergrund gedacht, dass man die Kontrolle verlieren kann. Aus dieser Tradition kommt unser Ideal der Selbstbeherrschung, der Autonomie, der Selbstkontrolle, des gemäßigten Umgangs mit den Begierden und so fort.

Eine andere Art, sich zu verlieren an Wünsche und Begierden, ist die Sucht. Dieses Thema will ich nur erwähnen, nicht vertiefen. Mein Kollege Thomas Becker spricht es öfter intensiv in unseren Podcasts an (https://www.youtube.com/channel/UCihlIr3eSOpdkF56CouaLGg).

Selbstkontrolle zu gewinnen über die eigenen Begierden, Triebe, Impulse und Wünsche beginnt bei der Achtsamkeit. Ich vermute, dass unkontrollierte Menschen eine tiefe Störung der Körperwahrnehmung haben. Achtsam zu sein, kann man lernen. Thomas Becker und ich haben das in unserer jüngsten Folge besprochen (https://www.youtube.com/watch?v=3N7XyugPlD4; etwa Mitte 37:30). Natürlich sind unsere Ratschläge und Einsichten nicht der Weisheit letzter Schluss; aber einer unter vielen Wegen.

Lebensphilosophie ist gelebte Philosophie. Gelebte Philosophie braucht Übungen. Es geht hier nicht um Wahrheit und Falschheit, sondern es geht darum, Lebenswandel herbeizuführen, kontrollierter zu werden. Acht zu geben auf die Kräfte, die innerlich zum Handeln drängen (jene Impulse, Begierden, Triebe, Wünsche usf.) ist eine tägliche Übung. Es ist nicht die einzige und nicht die seligmachende.

In Zukunft werde ich hier im Blog auch andere Übungen, die aus den alten philosophischen Traditionen stammen, erklären.

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass die Pflege der Seele auch bedeutet, sich innerlich durchzuarbeiten. Selbstkontrolle üben bedeutet auch, einmal nicht auf die Impulse zu reagieren. Verzichten, den Reiz aussitzen, ganz klar Nein zur Begierde sagen. So erfährt an, dass man das Subjekt seiner Taten ist. Mit diesen Übungen am Selbst ausgestattet können wir dann der Zukunft begegnen und frohen Mutes erwarten, dass wir auch das kommende kontrollieren können.

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Das beste, was wir aus uns machen können

Als ich die Schule verließ (mit Fachoberschulreife) wusste ich nicht, was Tugend war. Weder konnte ich sagen, was das sein soll, noch war ich aus glücklichem Zufall tugendhaft. Ich kannte zwar diesen Horror-Film über die Todsünden (David Fincher, „Sieben,“ 1995) und fand ihn faszinierend – aber das Wissen über das Pendant zu den Lastern ging mir völlig ab. Einmal, in der Schlange im Eingangsbereich der Disco redete ich mit meiner Begleitung über Tugend. Ich fragte ihn, was er unter dem Wort verstehe und meinte, vielleicht sei Geld ja eine Tugend. Auch er wusste nicht, was Tugenden seien; dass Geld aber sicherlich keine sei, das könnte er mir aber sagen. Das war auch schon alles, was wir darüber sagten.

Kürzlich habe ich für die Schüler, die ich wegen COVID vom Computer aus unterrichte, ein Erklärvideo zur Philosophie von Sokrates produziert. In meinen Vorarbeiten dafür konnte ich viel über Tugenden erfahren. Es heißt, dass es Sokrates‘ Lieblingsthema gewesen sei zu fragen, was das Beste ist, das der Mensch aus sich machen kann. Ich muss ihm zustimmen, das ist wirklich eine faszinierende Frage. Es ist ja sicher, dass die Art der Existenz, die wir jetzt führen, einmalig ist. Und ebenso sicher ist, dass das Streben in unserer Brust nach Sinn, Erfüllung und Ausfüllung mit dem Guten trachtet. Da ist es doch angebracht zu fragen, was denn das Beste ist, was wir aus uns machen können.

Sokrates Antwort ist kurz gefasst die: Andauerndes Recht-Tun ist das Beste, was wir machen können. Das Bemühen darum, von allen Optionen die tugendhafteste zu wählen, das sollte wir fortwährend und unablässig uns abfordern. Das ist die „Pflege der eigenen Seele.“ Wir kultivieren uns, arbeiten uns innerlich durch und ordnen uns selbst, wenn wir überlegt, gemäßigt, tapfer und gerecht handeln. In seiner praktischen Philosophie läuft alles in einem Punkt zusammen: die Tugend. Andauerndes Recht-Tun, sich um die Tugend bemühen und Tugend erwerben – das bedeutet im Grunde alles dasselbe.

Für Wortliebhaber (Philologen) wie mich ist immer spannend, wie sich Übersetzungen ergeben. Das Lateinische „virtus – die Vorlage für unsere „Tugend“ – ist die Übersetzung des griechischen „arete.“ Wegen der Gleichbedeutung lässt „virtus“ viele Menschen an Männlichkeit, Mannhaftigkeit denken. Obschon die gute Tat und die Tugend einen Mann auszeichnet – anders als das bloße Wort -, ist die enge sachliche Verknüpfung von Tugend mit Männern aber wohl in die Bedeutung hineingelegt. Arete – also das Wort, das Sokrates höchst persönlich benutzt hat, um über Tugend zu reden – ist ins Deutsche übersetzbar als Bestheit oder Gut-Sein. Es soll das Gute an allen guten Dingen zusammenfassen. Ein beliebtes Beispiel, um den Sinn dieser abstrakten Denkweise zu erläutern, ist die Gutheit eines Pferdes: Gute Pferde haben einige Eigenschaften gemeinsam; fasst man sie zusammen, dann spricht man über die Gutheit von Pferden (die arete von Pferden). Ähnlich bei guten Stiften – die Gutheit eines Stiftes (die arete eines Stiftes) ist dann: er ist leicht und kann in allen Lagen schreiben usw. – So haben die Griechen auch über Menschen geredet. Die arete eines Menschen: Das Beste, was er auch sich machen kann. Das, was allen guten Menschen gemeinsam ist.

Das Beste, das ich aus mir machen kann: Tugend erwerben und tugendhaft leben. Hier ist gefordert, dass ich mich ganz um mich kümmere: Um die Verfeinerung meines Charakters; um die Art, wie ich mit anderen umgehen; um mein Verhältnis zu Welt. Sokrates sagt uns, dass wir Acht geben sollen: Auf das, was wir aus uns machen.

Für einen Beginner in der Lebensphilosophie taugt das als Einstieg, um sich durchzuarbeiten und seine Taten gedanklich aufzuarbeiten. Die Übung ist die folgende. Denke zur üblichen Zeit an einen tugendhaften Menschen und frage dich: Und was machst du aus dir? bzw. Und was mache ich aus mir?

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Tugend traut man den Menschen heute nicht mehr zu

Der Zeitgenosse Peter Sloterdijk ist ein guter Beobachter von Wandlungen der Kultur. In seinen neuesten Vorträgen (betitelt mit „Wie man mit Göttern spricht,“ anlässlich des Erscheinens seines Buches „Den Himmel zum Sprechen bringen“) kommt er auf eine Kultur der Fremdbestimmung postmoderner Jungmenschen zu sprechen. Heutige Kinder wachsen in einer Kultur der Fremdbestimmung auf: Die Geräte, die sie umgeben, geben andauernd Handlungsanweisungen; die Geräte verlangen nach Eingabe; die Geräte melden, dass es Neuigkeiten gibt; mit den Geräten melden sich die Liebsten; die Geräte müssen eingesetzt werden, um Termine zu vereinbaren; will man etwas wissen, geht man an die Geräte.

Die Allgegenwart des Smartphones und der App-Dienste ist für jemanden wie mich – Jahrgang 83 – zwar vertraut, aber doch fremd. Ich kann noch anders. Manchmal versetze ich mich in die Lage von einem, der Jahrgang 2001 ist. Ich kann mich noch an die Einführung des iPhone erinnern; für ihn war dieses Ding immer irgendwie schon da.

Slotterdijk beobachtet, dass in der moralischen Erziehung des Volkes heutzutage nur noch von Werten die Rede ist. Durch Bücherwissen hat er den Vergleichspunkt: Heute wird da von Werten geredet, wo früher (durchaus noch 1950) von Tugenden die Rede war. Das ist eine Aussage, die man leicht überprüfen kann. Schauen Sie selbst: In den Kundgebungen der Parteien, den moralischen Reden der Politiker, in den Predigten, im Ethik-Unterricht in der Schule, in Büchern über Pädagogik – und an vielen anderen Orten der moralischen Erziehung mehr – überall sind es Werte, die explizit gemacht werden.

Die Reihe „Grundwerte Europa,“ herausgegeben von Clemens Sedmak, erschienen u.a. bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt kennt: Würde, Freiheit, Frieden, Gleichheit, Toleranz, Solidarität. Die stets eifernde Aktivismus, der heutige Moraldebatten begleitet, ergänzt schnell: Vielfalt.

Weder mir noch Sloterdijk geht es bei der folgenden Beobachtung darum, das moralische Gewicht dieser Werte anzusprechen. Jenseits von Moral kann man feststellen: Es hat ein Kulturwandel stattgefunden. Hat man früher Tugenden eingefordert, so verpflichtet man heutzutage auf Werte. Sloterdijk gelangt zur Schlussfolgerung: Tugenden traut man den Menschen heute nicht mehr zu.

Dies bringt uns zum ersten Gedanken zurück. Die vorherrschende Kultur der Verpflichtung auf Werte passt zum Klima der Fremdbestimmung. Und auch der Verzicht auf den Appell nach Tugend passt in dieses Klima,. Warum? Tugend bedeutet innere Durcharbeiten des Menschen. Der Erwerb von Tugend ist mit Disziplin gegen sich selbst verbunden, mit Selbstbestimmung.

(In meinen Einführung-Videos für Schüler habe ich diese Tradition besprochen; falls Sie interessiert sind, schauen Sie den Teil des Platon-Videos zum Gleichnis des Seelenwagens: https://www.youtube.com/watch?v=t67CU2PgIoo&t=7s ab Minute 18:08.)

Wir werden unzeitgemäß, wenn wir die Kultur der Tugend ansprechen. Meine Vermutung, die ich durch Studieren noch zu stärken habe, ist die: Mit der Ethik des einflussreichen Immanuel Kants ist das Hauptgewicht auf das Sollen in der Moral gelegt worden. Diese Ethik des Sollens zeigt sich heute im Kleid der Werte. Der Werte-Himmel, auf den wir uns verpflichten und den wir unseren Kinder beibringen, ist das schlechthin Sollens-Würde. Es soll sein: Würde soll sein, Freiheit soll sein, Frieden soll sein, Gleichheit soll sein, Toleranz soll sein, Solidarität soll sein, Vielfalt soll sein.

Das, was sein soll, ist noch nicht. Mit diesem bemerkenswert schlichten Satz hat Hegel die Logik der Werte begriffen: Damit es wird, was es sein soll, muss es verwirklicht werden. Das einzige uns bekannte Wesen, das einen Wert verwirklichen kann, ist der Mensch selbst. Mit dem Ruf nach werteorientierten Handlungen ist also der Mitmensch angeredet. Und zwar stets von außen, von der Autorität her.

Über die Transformation der Sollens-Ethik zur Wert-Debatte wurde das Erbe der Tugendethik ganz vergessen. Dieses Erbmasse, seit den antiken Griechen angehäuft, gepflegt in den spirituellen und asketischen Traditionen und Einrichtungen, wird in der Öffentlichkeit nur wenig zur Kenntnis genommen.

Tugend ist der feste Vorsatz, der zur Charaktereigenschaft geworden ist. In Tugend verwirklichen sich Werte. Aber diese Werte sind versehen mit der inneren Anerkennung. Anders als in der Kultur der Verpflichtung auf Werte ist die Kultur der Tugend beseelt und hat innere Substanz. Diese Tiefe hat die Tugend, weil sie als Charakterzug gewachsen ist und ihren Träger durch viele Situation begleitete. (Wer mehr erfahren mag, der lese Otto Friedrich Bollnow, „Wesen und Wandel der Tugenden.“)

Feste Vorsätze, Arbeit an sich, innerliches Durcharbeiten, Anstrengung, Verfeinerung – also all das, was die Menschen in den Taten beweisen und in kraftvoller Weise erzeugen müssen; wozu spirituelle Übungen nötig sind – das traut man Menschen heute nicht mehr zu.

Das Menschenbild des Verbrauchers, des Konsumenten, des Hedonisten – welches wir allzu leichtfertig übernehmen – kennt diese Anstrengung nicht. Sloterdijks Beobachtung hat hier ihre Wurzel: Den Menschen traut man die Internalisierung von Werten nicht mehr zu. Statt auf Selbststeuerung zu setzen, appelliert man an „unsere Werte.“